Samstag, 27. Oktober 2007

Fuß fassen, loslassen

Ein Freitag Abend in dieser Stadt. Um mich herum rauschen wieder Autos und Menschen durch die Straßen, die Tunnel und die Gassen. Souvlaki-Geruch strömt durch die Luft, und alles dreht sich wie gehabt. Meine Tage hier werden nun etwas stiller. Ich sehne mich nach Ruhe, einem guten Buch und etwas Einsamkeit in diesem niemals ruhenden Moloch. Ich will nicht nur die Geschichten, ich habe vielmehr eine Sehnsucht nach Versenkung. Nach einer stillen, persönlichen Expansion.

Manch einer vermisst mich schon auf den Erasmus-Party und fragt, warum ich denn nicht gekommen bin. Ob ich woanders war, und warum ich denn nichts von dieser Party erzählt habe. Party-Ben. Oh ja, das habe ich schon mehrmals gehört. Ich entdecke einige Parallelen zu meinem letzten Umzug in Dortmund. Ich treffe eine neue Umgebung, lerne neue Menschen kennen und versprühe mich durch die sternenklare Nacht. Dann wache ich auf und starre an die Decke. Ich drehe mich um und schlafe wieder ein...


Und dann gehe ich doch kurz raus und treffe die Franzosen, die meinem Namen ein wunderbares, neues Kleid geben, indem sie mich „Boendschmon“ nennen. Oder die Spanier aus Valencia und Madrid, die sich nach „Benchamin“ erkundigen. Und dann gibt es noch die Leute, die mich noch nicht kennen und mich für einen Skandinavier oder Briten halten. Dann fühle ich mich geschmeichelt und tue so, als ob sie recht hätten. Erst am Ende sage ich ihnen doch die Wahrheit. I'm just one more German guy. No, I don't study law. Yes, I like Athens. Take care, see you next time. Au revoir... Die Kultur der hohlen Phrasen.


Diese großen Erasmus-Partys besuche ich nicht mehr. Ich bin vielmehr sehr froh darüber, einen kleinen Kreis von Studenten zu kennen, mit denen ich mich einerseits über viele Dinge unterhalten kann, die andererseits auch unternehmungslustig und vielseitig interessiert sind. Mit diesem Grüppchen aus Neo-Gräzisten, Philosophen, Archäologen, Theaterwissenschaftlern und Germanisten verbringe ich einige Zeit. Und es lohnt sich, denn wir sehen viele gute Dinge:

Das Goethe-Institut in Athen zeigt jede Woche sehenswerte Filme jeglicher Coleur. Seien es Dokumentationen, oder wie gestern, ein Kurzfilm-Abend. Und das kostenlos. Die Debatten und Interpretationen im Anschluss machen Spaß und schärfen den Blick. Heute besuchten wir eine Ausstellung mit Werken von Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele, der Creme de la Creme der Wiener Moderne. Das macht Spaß, ist unterhaltsam und wissenswert.


Diese Leute sind ein Teil meines persönlichen Weizens, den ich von der Spreu getrennt habe. Oder vielmehr der deutsche Weizen, denn es gibt noch eine weitere Gruppe von Leuten, die ich mittlerweile sehr gern habe. Diese Studenten kommen vorwiegend aus Polen, Tschechien und Italien. Mit Maria aus Warschau kann man sich z.B. sehr gut über Politik unterhalten. Nicht nur, weil sie das Fach studiert, sondern auch weil sie viele Hintergrund-Informationen hat. Ihr Vater war, bis vor wenigen Tagen noch, der stellvertretende Minister für das Wirtschafts- und Energieressort in der polnischen Regierung. Dann erzählt sie mir etwas über die Kaczynskis, den politischen Kurs Polens und die Korruption. Ihr Freund Tomek studiert Jura und ist einer der zynischsten Pessimisten, die ich jemals getroffen habe. Ein kühler Kopf mit mehr Ratio als Herz. Und dennoch sympathisch, weil wir uns manchmal um Kopf und Kragen reden, zeitweise wütend anschnaufen, um dann doch gemeinsam ein Bier zu trinken. Oder Teresa aus Tschechien. Ein pausbäckiges Mädel mit viel Energie und verrückten Ideen. Ihr folgt die ganze italienische Crew, bestehend aus Giovanni, Luigi, Salvatore, Silvia, und Giuseppe. Eine Schar, das sich lautstark unterhält und dabei wild gestikuliert. Manchmal nehme ich mir einfach einen Stuhl und höre mir eine Unterhaltung an. Kommunikation ist für diese Menschen nicht einfach ein Austausch von Argumenten, sondern der Austausch von Signalen aller Art. Nicht nur der Mund spricht, sondern auch die Augen, die Hände, der gesamte Körper scheint ein Lautsprecher zu sein. Ich frage mich, warum der Kelch mit dieser tollen Eigenart an den Deutschen vorbei gegangen ist. Zwar können auch wir nicht Nicht-Kommunizieren, aber uns fehlt vielleicht das nötige Temperament. Bestimmt sogar. Die deutsche Sprache selbst wird von vielen Nicht-Deutschen als hart, grob, klobig, aber präzise betrachtet. Man spricht uns jegliche Form von Eleganz und Feinheit ab. Wenn das Gespräch an diesem Punkt angekommen ist, ziehe ich ein Heftchen aus der Tasche und lese ein Gedicht von Rilke, und eines von Goethe vor. Diesem Wohlklang konnte sich bisher keiner entziehen, wenn gleich er auch kein Wort Deutsch versteht.


Zu einem anderen Wohlklang werden für seit einiger Zeit Zungenbrecher aus aller Welt. Ich lasse sie mir erst vorsprechen, und wenn sie mir gefallen, dann nehme ich sie mit meinem Handy auf. Mittlerweile habe ich insgesamt 3 Zungenbrecher aus 2 Ländern (Tschechien und Frankreich). In den nächsten werde ich noch mehr aufnehmen und meine kleine Sammlung ausbauen. Vielleicht nehme ich noch ein paar tschechische mehr auf, denn diese klingen besonders extravagant. Durch die vielen cz-tsch-Laute ähnelt ein im zügigen Tempo vorgetragener Satz einer Maschinengewehr-Salve. Tschechisch selbst muss eine sehr schwierig zu lernende Sprache sein. Nicht nur wegen der insgesamt 7 Deklinationsformen...


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Und wenn ich irgendwann am Ende des langen Abends heim gehe, überfällt mich wieder diese Sehnsucht nach Stille. Dann werde ich melancholisch und ärgere mich über das laute Gehabe der Stadt. Dann sehe ich nicht ihre ausufernde Schönheit, sondern konzentriere mich auf das augenscheinlich Hässliche, das wie das Schöne überall lauert und entdeckt werden will. Meine Sinne werden des singenden und tanzenden Abschaums gewahr:

Sie sehen die verstümmelten Bettler, deren Gliedmaßen von einem üblen Pilz befallen sind. Sie sehen zuckende Leiber im Heroin-Rausch, Nadeln mit Blutspuren, Trainspotting in echt. Sie sehen die Obdachlosen mit ihren Pappdecken und riechen den Urin nebenan. Einige Straßen weiter tummeln sich große Namen. Versace, Bulgari, Vitton... Athena, Du Arme.

In einer weiteren Gasse puhlt eine Frau mit herunter gelassenem Rock das restliche Sperma aus ihrem Körper. Transvestiten ködern ihre Klientel. Athena, Du Hure. Polizisten geben hemmungslos Gas auf ihren Motorrädern. Das Vorderrad hebt ab und der Lärm betäubt meine Ohren. Athena, Du Maßlose. Auf Demonstrationen setzt die Polizei auf Tränen-Gas. Die Demonstranten auf den Molotow-Cocktail. Athena, Du Radikale.

Dann bin ich zu Hause und will nur noch schlafen. Athena, lass mich in Frieden.


Am nächsten Morgen packt mich der Ehrgeiz und ich setze mich an den Schreibtisch. Dann lese ich eines meiner mitgebrachten Bücher, unterstreiche das Wichtige und fasse alles in meinem Ordner zusammen. Dann lese ich mir meine alten Einträge durch, wiederhole diese und verfestige alles.
Hypomnemata. Vielen Dank Herr Seneca, vielen Dank Herr Foucault.

Ich fühle mich ein Stück reicher und fahre zur Universität, die mir in dieser Woche noch nicht dieses Gefühl geben konnte. Sie raubte mir eher Nerven und erregte viel Unverständnis.


Zahlreiches Kopfschütteln aller Orten über das unfassbare Ausmaß an Bürokratie. Als Student der „National and Kapodistrian University“ braucht man zur Anmeldung insgesamt 8 Passbilder. Eines für den Studentenausweis, eines für den Mensa-Ausweis, eines für das Metro-Ticket, eines für die Verwaltung und ein fünftes Bild für die Unterlagen in der jeweiligen Fakultät. Die Passbilder 6,7 und 8 sind für den Griechisch-Kurs, für welchen man einen Eignungstest machen muss. Jeder Einzelne hat in seiner Bewerbung angegeben, ob und in welchem Maße er Griechisch sprechen kann. Das reicht aber offensichtlich nicht aus, und somit musste jeder zu einem Test antreten. Das Gro aller Studenten schrieb nur den eigenen Namen und die Matrikel-Nummer darauf. Dann wurde das Blatt abgegeben.

Doch das Leben an der Uni besteht nicht nur aus dem Griechisch-Kurs, der erst in der kommenden Woche anfängt. Von Montag an konnte ich mir jeden Tag ein paar Veranstaltungen ansehen und mir so meinen Stundenplan zusammen stellen. Ich habe zwei Seminare im Bereich Linguistik, und zwei weitere im Bereich Literaturwissenschaft. Wenn die Uni Dortmund es mir erlaubt, werde ich noch einen weiteren Schein machen. Die Benachrichtigung steht allerdings noch aus.


Im Bereich Linguistik werde ich Seminare zu den Themen „Lexikologie“ und „Sprachvarietäten“ wählen. Bei der Literaturwissenschaft ist es zum einen ein Seminar über die „Liebe im Zeitalter der Aufklärung“, und zum anderen ein Seminar über Heinrich von Kleist. Im Zuge dessen lesen wir unter anderem „Der zerbrochene Krug“, auf den ich mich schon freue.

Ein Vorteil des Studentenlebens an dieser Uni ist, dass man sämtliche Bücher gestellt bekommt.

Davon kann ich in Dortmund nur träumen. Über die Qualität der Kurse kann ich noch nichts sagen, da in dieser Woche lediglich die Einführungen stattfanden. Die Dozenten machen mir jedoch einen engagierten Eindruck. Hoffentlich bewahrheitet sich dieser.

Wie dem auch sei: Ich bin froh, dass es jetzt endlich los geht und ich mich in die Bücher stürzen kann.


Mit meinem Kopf bin ich allerdings auch noch in Dortmund, wo ich noch ein Problem mit der Uni lösen muss. Von Athen aus kann man leider nicht mehr machen als e-Mails schreiben, Faxe senden und Telefonate zu führen. Wenn man jedoch auf all diesen Wegen keine Rückmeldung bekommt, frustet und ärgert es ungemein. Diese Sache spukt permanent in meinem Hinterkopf und ich hoffe, dass ich in der nächsten Woche mehr Erfolg habe.


Zum Abschluss dieses Eintrags habe ich noch eine kleine Anekdote. Als ich vor wenigen Tagen mit meinem Notebook am Syntagma-Platz saß, setzte sich ganz unverhohlen ein junger Mann neben mich und sprach mit auf meine Flip-Flops an. Er wollte unbedingt wissen, woher ich diese habe und von welcher Marke sie denn seien. Dabei umfasste und streichelte er meinen linken Fuß. Irgendwann steckte er auch einen seiner Finger zwischen meine Zehen. Im ersten Moment war ich ziemlich perplex, aber nachdem ich mehrmals meinen Fuß weg zog, bin ich ihm irgendwann auf seine Finger getreten.

Vielleicht war er auch mehr an meinem Rucksack interessiert, aber da er selber einen auf seinem Rücken trug, scheint mir dies eher unwahrscheinlich. Er hatte wohl einfach Bock auf meine Füße, warum auch immer. Möge er sich die Kontur meines großen Onkels gemerkt haben und möge die Schwellung an seinem Finger schnell vorbei gehen, damit er sich anderen Dingen widmen kann.

Was immer dies in seinem Falle auch sein mag...


Kopf hoch.

Benjamin







P.S: Danke für die Kommentare und e-Mails, die Ihr mir habt zukommen lassen!

Ich funke weiter von hier. Ja.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website ben-in-athen.blogspot.com Links tauschen