Freitag, 21. Dezember 2007

11251 Aθήνα - Vorweihnachtlicher Fokus

Kaffee um halb zwei in der Nacht.
Wie konnte ich mein ganzes Leben lang ohne dieses Getränk auskommen? Im Laufe der letzten Wochen habe ich immer weniger Milch hinzu gegeben, so dass ich ihn mittlerweile schwarz trinke. Mit Zucker. Die Wirkung der Bohne ist bekannt, und deswegen schätze ich sie auch. Ich schlürfe den Kaffee mit Genuss. In diesen Tagen ist es aber auch ein Zweckgetränk, da ich eine dicke „To-Do-Liste“ habe, die ich noch vor Montag in den Müll schmeißen möchte. Abgehakt, versteht sich...

Heute habe ich viel Kleinkram erledigt. Mein Prepaid-Konto für's Handy ist aufgeladen. Im Badezimmer steht ein neues Shampoo und die Geschenke für Familie und Freunde sind eingepackt. Die größte Arbeit steht mir noch bevor. Ich habe zwei Bücher, die ich bis Sonntag Abend gelesen und zusammen gefasst haben möchte. Eines habe ich vor zwei Stunden beendet, dass andere habe ich zu ¾n durch. Eigentlich wollte ich das Wichtigste des vorhin durchgelesenen Werkes (Sprachwandel – Sprachvarietäten) heute schon zu Papier bringen, aber mir ist gerade viel mehr nach Tippen. Mein Zettel für den neuen Blog-Eintrag platzt aus allen Nähten, und das, obwohl hier eigentlich nicht viel passiert ist.

Das Gro der Erasmus-Blase befindet sich bereits in den jeweiligen Heimatländern. Und diejenigen die noch hier sind, freuen sich größtenteils auf ihre baldige Heimkehr und die Zeit bei ihren Familien. Manche bleiben aber auch hier. Tereza zum Beispiel, die morgen Nachmittag ihren Freund vom Flughafen abholt und ihn erbarmungslos durch die Stadt zerren wird. Das hat sie zumindest vor.
In meiner WG bin ich aber (mit Jirka) der Einzige, der nach Hause fliegen wird. Despina hat nach der Beerdigung ihres Vaters erstmal genug von Schweden, und Lucia müsste in den Senegal fliegen um ihre Mutter zu besuchen. Sie fährt nach Weihnachten mit ihrem Freund in die Türkei. Ondrej plant auch irgendeinen Trip, während Louis sich hier in Athen wohl weiterhin von seiner Kalliope verwöhnen lassen wird. Es wird hier also auch ohne mich Leben in der Bude sein.

Gestern war Sissi (unsere Vermieterin) kurz hier und hat sich verabschiedet. Sie fliegt Ende des Monats zu ihrem Mann in die USA und wird wohl erst im Juni wieder kommen. Sollten einer von uns irgendwann mal in der Nähe von New York oder Washington D.C. sein, sollen wir einen Abstecher zu ihr machen.

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Was gibt es also zu berichten?
Obwohl es nicht spektakulär war, möchte ich Euch vom Champions-League Spiel der letzten Woche erzählen. Olympiakos Piräus empfing Werder Bremen, und so trafen sich zwei Hand voll Männer am Victoria Square. Wir tranken stilecht Bier aus einem Fässchen und warteten noch auf Angel, den Spanier aus Kaljas Wohnung. Als er dann eintraf und sich umsah, riefen alle seinen Namen. Er drehte sich jedoch nicht zu uns um, sondern blickte auf sein Handy (vermutlich um einen von uns anzurufen). Erst als ich dann „Ey Picha!“ rief, schaute er in unsere Richtung und ging los. Nun muss ich dazu sagen, das „Picha“ soviel wie „Schwanz“ bedeutet. Das finden die Spanier aber gar nicht schlimm. Ganz im Gegenteil: Gute Kumpel nennen sich eben so, ganz egal ob in Andalusien oder, wie im Falle von Angel, in Valencia.
Wir fuhren also nach Piräus und trafen auf ein Meer aus den Farben Rot und Weiß. Um das Stadion herum schrien die Souvlaki-Händler um die Wette, während im Stadion schon die ersten bengalischen Feuer gezündet wurden. Wir versuchten noch irgendwie an Karten zu kommen, aber an der Abendkasse war nichts mehr zu holen. Mir wurde ein Ticket für 100 Euro angeboten. Als ich dem Mann sagte, dass ich nur 20 dabei habe, hatte er nur ein müdes Lächeln für mich übrig. Egal, mir ging es auch vielmehr um die Atmosphäre als um das Spiel. Markus sah das anders. Als gebürtiger Bremer und Werder-Fan wollte er unbedingt an den Ort des Geschehens, aber alle Versuche schlugen fehl. Einige trennten sich dann von der Gruppe und gingen nach Hause. Wir (Iwo, Markus, Angel, Johannes und ich) begaben uns nun auf die Suche nach einer Bar, fanden aber nirgendwo eine. Es ging weiter Richtung Hafen, und nach ca. 15 Minuten kamen wir an ein Pförtnerhäuschen mit Schlagbaum. Dort fragten wir dann zwei Männer nach einem Lokal. Mit schlechtem Griechisch und gekonntem Easy-English. Nach einer Weile begriffen sie, was wir von ihnen wollten. Sie fragten uns, ob wir irgendwelche Schals oder Trikots von Werder Bremen an uns trügen, weil das dort verkehrende Publikum im Falle einer Niederlage durchaus handgreiflich werden kann. Das war uns doch zu heikel, und so gingen wir einfach weiter, bis wir auf ein griechisches Paar stießen, das uns in eine schicke Bar mitnahm. Wir setzten uns hin, und jeder bekam vorab ein dickes Glas Wasser. Später folgten sogar Schälchen mit Nüssen und Chips, die ratzfatz alle waren.
Da saßen wir nun auf einem Sofa, ganz hinten und im wahrsten Sinne mit dem Rücken zur Wand. Obwohl dieses Café/Bar edel war, haben sich in den hinteren Winkel, in welchem die Fernsehapparate montiert waren, doch ein paar Dutzend heißblütige Olympiakos-Fans versammelt. Die applaudierten auch fleißig, als ihre Mannschaft dann das Spielfeld betrat. Später jubelten sie dann, als das 1:0 für ihre Mannschaft fiel. Wenn einer aus ihrem Team gefoult wurde, riefen viele von ihnen, fast wie abgesprochen, das allgegenwärtige „Malaka“. Das ist hier ein Standard-Schimpfwort und bedeutet ungefähr soviel wie „Arschloch“. Nun, bei den „Malaka“- und Jubelrufen blieben sie aber nicht sitzen, sondern sprangen auf und machten weite Bewegungen mit ihren Armen oder fielen in dieselben ihres Sitznachbarn.
Nein, wir haben uns nicht bedroht oder gefährdet gefühlt. De facto waren wir aber in der Minderheit, und selten habe ich das so intensiv gespürt wie an diesem Abend in Piräus. Da hockte es nun, das kleine Grüppchen aus 5 Jungs, welches dem deutschem Team die Daumen drückte. Sowohl die Treffsicherheit der Olympiakos-Spieler, als auch die elektrische Ladung der mitfiebernden Fans, die nur einige hundert Meter von ihrem Tempel in Ekstase gerieten, rückten uns immer näher an die Wand. Bei jeder verspielten Torchance für Bremen zuckten wir kurz zusammen oder bissen uns auf die Lippen. Leise war es bei uns auf dem Sofa. Zumindest gab es keine Ausrufe wie „Ah“, „Oh“ oder sogar „Hoijoijoi“. Nachdem es irgendwann 3.0 für die Griechen stand, hätten sie uns dies vielleicht auch nicht übel genommen. Ach, was sage ich: Sie hätte es uns bestimmt auch so nicht übel genommen. Aber man weiß ja nie...
Wie dem auch sei: Markus war bedient und wollte nur noch weg. Wir liefen zurück zur Metro-Station. Ich wollte aber noch ein wenig dableiben und die gute Laune der Fans aufsaugen. Angel leistete mir Gesellschaft und wir warfen, nachdem das Spiel beendet war und die Tore geöffnet wurden, einen Blick ins Stadion Karaiskakis. Eine schöne, kleine Fußball-Arena für ungefähr 33.300 Zuschauer. Auf dem Rückweg holte ich mir dann eine vegetarische Souvlaki, woraufhin mein spanischer Kumpel und ich uns über Vegetarismus und Spiritualität unterhielten. Irgendwann standen wir in der vollgepressten Metro Richtung Kifissia. Um uns herum feierten bärtige Männer in Rot-Weiß den Einzug ihres Teams ins Achtelfinale der Champions-League. Ohne besoffenes Gröhlen und ohne Pöbelein. Da kann sich der deutsche 08/15-Fan mal eine dicke Scheibe von abschneiden...
Jedenfalls standen Angel und ich in der Metro und unterhielten uns weiter über Energien, Shiva, den Kosmos und andere Dinge, bis wir merkten, dass einige Leute uns irritiert ansahen. Dann wurde uns auch klar, wie amüsant es für einige Menschen wirken muss, wenn zwei Ausländer sich in einem proppevollen Abteil über Esoterik unterhalten, während wohl alle anderen rumhopsen, singen und sich den tollen Linksschuss zum 1:0 auf ihrem Handy reinziehen. Oh Mann.
Wir stiegen aus und einer jeder ging seiner Wege. Ein schöner Abend, trotz (oder gerade wegen) der Niederlage von Werder Bremen.


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Despina und ich treffen uns gelegentlich per Zufall auf dem Flur oder in der Küche. Und wenn wir reden, dann fallen uns gelegentlich nicht die Wörter im Englischen ein, die wir benutzen möchten. Nach nunmehr knapp 2 ½ Monaten sind wir jetzt dazu übergegangen, die fehlenden Wörter in unserer Heimatsprache zu artikulieren. Sie auf Schwedisch, ich auf Deutsch. Denn Schwedisch ist auch eine germanische Sprache und weist einige Parallelen zum Deutschen auf. Wir reduzieren uns aber auf Substantive, Verben und Adjektive. Beispiele gefällig:

Himmel – Himmel
Kraftlos – Kraftlös
Burg – Borg
wachsen - växa
Mütze – Mössa
Vogel – Fägel
Wasserkocher – Vattenkokare
Halstuch – Halsduk

Alle paar Tage fallen uns neue Begriffe ein, die ich dann in meine Liste einfüge. Es sind schon über 20, und es werden mit Sicherheit noch mehr.

In den nächsten 3 Wochen werden wir aber nicht dazu kommen, neue Wörter zu finden. Dann werde ich nämlich in Deutschland sein und dieser großen Stadt auf absehbare Zeit „antio“ (Auf Wiedersehen) sagen. Noch bin ich aber hier laufe mit offenen Augen durch Athen. Manche Sachen werden mir erst jetzt so richtig bewusst...

Zum Beispiel die eigenartige Form der „Peripteros“. Das sind Kioske, die es (fast) an jeder Straßenecke gibt und bei denen man (fast) alles kaufen kann. Diese kleinen Buden haben die Zeitungen an ihren Dächern hängen, während links und rechts daneben Kühlschränke mit Getränken drin brummen. Geht man frontal auf einen Periptero zu, so sieht man nur den Kopf des Verkäufers, der aus einem ca. 30x40cm großen Fenster heraus guckt. Rundherum ist alles mit Schokoriegeln und Süßigkeiten zugekleistert. Die ganze Konstruktion ist ein kubus-gewordener Bauchladen. Innen gibt's auch nochmal ein dickes Warensortiment, vorrangig Tabak und Telefonkarten. Und eine starke Heizung, denn jedes Mal wenn ich das Wechselgeld entgegen nehme, spüre ich die Wärme in der Bude.
Ist schon toll so ein Periptero. Nicht zuletzt deswegen, weil er mich an die Trinkbuden im Ruhrgebiet erinnert. Nur das hier nicht der Horst abhängt und dem Walter von seine Uschi erzählt. Woll?!

Mir ist letztens auch erst so richtig bewusst geworden, dass zwischen sehr vielen Häuserzeilen Spiegel montiert sind. Besonders häufig sieht man sie in den Straßen mit Kleidungsgeschäften. Man läuft sich tagtäglich mehrmals selbst über den Weg, und sollte man nicht mit seinen Klamotten zufrieden sein, geht man einfach in den nächsten Laden. Oder man zupft sich die Haare zurecht. Oder man probt sein Lächeln für irgendeinen Menschen. Keiner von ihnen hat eine Schramme, geschweige denn einen Riss. Man geht sorgsam mit ihnen um, denn schließlich möchte niemand Kratzer in seinem Gesicht sehen...
Und wenn es sie doch gibt, dann zieht man einfach eine Sonnenbrille auf. Diese gehört nämlich zur Standard-Bekleidung vieler Griechen, besonders zu der der älteren Semester. Eyewear. Selbst in den unterirdischen Metro-Stationen nehmen sie sie nicht ab. Das sieht zwar chic, aber auch übertrieben aus.
Beeindruckend ist es hingegen, wenn sich fast alle Insassen eines Busses oder Zuges bekreuzigen, sobald sie eine Kirche sehen. Wie ein Reflex wandert die Hand von der Stirn zum Brustbein, von dort zum Herzen und anschließend zum rechten Pendant. Viele bekreuzigen sich 3x hintereinander. Vor allem die älteren Frauen. Die Männer eher seltener, aber dafür haben diese einen Rosenkranz, den sie als Zeichen ihres Glaubens mit sich führen.

Nochmal zurück zu den Metro-Stationen. Selten gab es so kurzweilige Momente wie die in den attischen Metro-Stationen. Dort läuft sehr häufig tolle Jazz-Musik und gelegentlich auch griechische Folklore. Dort gibt es kein betrübtes Schweigen oder die monotone Stimme einer gelangweilten Ansage. Der Fahrgast wird akustisch unterhalten bis der nächste Zug kommt. Gerade mir gefällt das sehr gut.

Was mir nicht gefällt ist der tägliche Frisch-Markt in der Nähe von Omonia, denn dort bin ich vor ein paar Tagen durch Zufall gelandet. Naja, was soll ich sagen: Ich ging durch eine Allee aus Fleisch. Ich sah tote Ziegen und Hasen, denen die Haut abgezogen wurde. Sie alle hingen an stählernen Haken und starrten mich durch ihre schwarzen Augen an. Der abgetrennte Schädel einer Kuh hatte noch einige Wimpern und in einem Kabuff hackte ein Metzger mit blutiger Schürze auf einem Stück Tier herum. Die Luft war stickig und roch nach Verrottetem und Fisch und Schweiß und Tod. Ich beschleunigte meinen Gang und atmete die ganze Zeit durch den Mund, bevor ich wieder an die „frische“ Luft kam. Im Reiseführer wurde bereits gesagt, dass dieser Ort nur für Hartgesottene ist.
Ich könnte dort zwar noch einmal durchlaufen, würde es aber wohl versuchen zu vermeiden.

Aber nicht nur in Omonia gibt es einen Markt. Ganz Athen ist ein Markt, ein einziger Basar. Besonders jetzt zur Weihnachtszeit laufen hier noch mehr Inder und Afrikaner rum und verkaufen noch mehr Kitsch und Kack. Das tollste, was ich gesehen habe waren Gummibälle mit fingerlangen Noppen. Oder eine Flummi-Masse in der Form von Tomaten, die man zu Boden wirft. Dort klatscht sie zunächst auf und verteilt sich, bevor sie sich langsam wieder zusammenzieht und nach wenigen Sekunden wieder wie eine Tomate aussieht.
Mit Megaphonen preisen sie ihre Staubfänger an. Und in den Touristenecken, allen voran Monastiraki, wird man mit gefälschten CDs und DVDs zugebombt. Man kann hier in Athen wohl alles bekommen, was irgendwann mal auf einen Silberling gebrannt wurde. Nur eben gefälscht. Selbst an der Uni gibt es Stände mit gefälschten CDs. In der Stadt säumen die fliegenden Händler den Weg mit ihren Duplikaten. Seien es Alben, Filme oder gefakete Handtaschen von Gucci. Die Polizei greift nicht ein und lässt die Händler gewähren. Warum auch nicht, denn die Touristen decken sich gerne mit der einen oder anderen Ware ein. Vor allem Frauen bleiben häufig bei den Handtaschen stehen. „Die gehen wohl ganz gut“ sagt Lucia, die sich manchmal mit den Senegalesen unterhält. Das macht sie auf „Wolof“, welche eine von 6 Nationalsprachen des Landes ist.
Handtaschen verkaufen sich gerade wohl besser als Schuhe und Armbanduhren. Wie an der Börse, so gilt auch hier: The trend is your friend!

Alles andere als „friendly“ finde ich die mobilen Teppichverkäufer, die mich manchmal mit ihren Lautsprecher am frühen Sonntag Morgen (7.30h) aus dem Bett schreien. Sie fahren mit ihren Pick-Ups ganz langsam durch die Straßen und werben für ihr Gewebtes, dass sich auf der Ladefläche befindet. Manchmal tollen dort auch Kinder herum. Mama fährt Auto, während Papa das Mikro in der Hand hat. Ein echt schräges Bild. Aber das ist eben auch Athen.

Und sollte mal die Windschutzscheibe dreckig sein, so wird bestimmt einer der zahlreichen Inder diese gerne gegen einen kleinen Obolus sauber machen. Einen von ihnen sehe ich jeden Tag auf dem Weg nach Hause. Er ist ca. Ende 40 und verkauft, neben seiner Dienstleistung, auch noch Taschentücher. - Hier gibt es ein Überangebot an Taschentüchern. Manchmal steigen auch irgendwelche Junkies in die Busse und verkaufen Taschentücher. Dann torkeln sie durch das fahrende Monstrum und ich frage mich immer wieder, wann sie denn wohl umkippen. Ihre fahlen Augen und der blasse Teint lassen keinen anderen Entschluss zu.
Sie kippen aber nicht um. Sie hangeln sich langsam aber sicher hindurch und bekommen auch ein paar Cent. Dann steigen sie aus und puhlen mit einem Finger in der Handfläche, um das Geld zu zählen. Traurig, aber wahr.

Bus fahre ich aber nicht so oft. Vor allem jetzt, wo die Uni-Zeit für dieses Jahr vorbei ist. Am Dienstag habe ich ein Referat gehalten und somit meine letzte offizielle Handlung für 2007 erledigt. Allerdings habe ich danach noch meine Hausarbeiten besprochen, die ich bis Mitte Februar im Kasten haben muss.
Was mich immer noch etwas irritiert ist die Tatsache, dass Dozent und Student sich Duzen. Die Griechen sehen das hier nicht so eng. Nach dem Unterricht raucht man sich auch gemeinsam eine Zigarette. Dann setzt man sich auf den Tisch und steckt sich eine an. Ganz locker, ganz unverfänglich. Warum auch nicht?! Nein, ich bin nicht spießig. Ich bin es einfach nur ganz anders gewöhnt und ich bezweifle, dass ich es mir angewöhnen werde. Und sollte es doch passieren, muss ich es mir auch ganz schnell wieder abgewöhnen, denn in Dortmund will bestimmt kein Dozent von mir mit „Du“ angesprochen werden. Oder irre ich mich?
Ich weiß, dass Herr Dr. Thiele die Adresse zu diesem Blog hat. Vielleicht möchte er zu diesem Sachverhalt Stellung nehmen und etwas Licht ins Dunkel bringen. Und vielleicht möchte er mir auf diesem Wege auch sein „Du“ anbieten ;-) Falls nicht, nehme ich es ihm auch nicht übel und werde (wenn es sich anbietet)dennoch im nächsten Semester einen Kurs bei ihm belegen. Immerhin hat er mich in seinem Proseminar "Vom Tagebuch zum Weblog" auf die Idee zu diesem Blog gebracht.

Belegt. Besetzt. Voll.
Voll heißt auf Griechisch „Pliris“. Das weiß ich daher, weil in den maroden Aufzügen an der Uni ein rotes „Pliris“-Signal aufleuchtet, wenn die maximale Beladung erreicht ist. Sehr uncharmant, vor allem wenn ein etwas beleibterer Mensch in die Kabine tritt. Dann muss dieser eben aussteigen und auf den nächsten Aufzug warten. Das dauert dann aber mindestens 5 Minuten. Vielleicht sollte er die Stufen nehmen und ein paar Kilo verlieren, damit es vielleicht beim nächsten Mal klappt. Nur Mut...

Ich komme zum Schluss dieses Eintrags nochmal auf Tereza zurück und möchte eine kleine Anekdote erzählen. Nachdem Terezas Opa im Sommer starb, haben ihre Eltern der Oma einen Computer mit Internet-Anschluss besorgt. Seitdem surft und skyped die rüstige Dame durch die Datenautobahn und genießt die technischen Errungenschaften der Gegenwart.
Sie ist eine Frau die viel erlebt hat: Krieg, Hungersnöte, Kommunismus, Frieden. Umso skeptischer war sie als Tereza ihr mitteilte, dass sie hier einen guten Freund aus Deutschland gefunden hat. Beim Aussprechen des Wortes „Deutschland“ kamen wohl viele Erinnerungen hoch, und die Großmutter riet ihr zur Vorsicht. Zugleich räumte sie aber ein, dass diese Zeiten vorbei seien und ich nicht das Geringste damit zu tun habe.
Ein paar Wochen später schickte Tereza ein paar Bilder von uns nach Tschechien. Von den Fotos (und den Erzählungen) schließt sie nun, dass ich ein ganz freundlicher Kerl bin der, obwohl er Deutscher ist, nichts Böses im Schilde führt. Außerdem mag Terezas Oma (ganz im Gegensatz zu ihrer Enkelin) große Männer mit dunklen Haaren. Das hat sie mir heute beim Abendessen in der Mensa erzählt und mir damit ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Möglicherweise klingt es übertrieben, aber vielleicht habe dieser alten Frau nun ein neues Gesicht von Deutschland zeigen können. Mein eigenes Gesicht. Auch wenn ich nicht „Mr. Germany“ bin, so hat es doch ausgereicht, um einen kleinen Sinneswandel zu vollziehen. Ist das nicht schön?

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Mein Video der Woche ist auch von Tereza. Vielmehr ist es eine PowerPoint-Präsentation, die sie für mich im angetrunkenen Kopf gemacht hat. Einleitend muss Folgendes gesagt werden:

Tereza und ich beschimpfen uns manchmal. Nicht bösartig, sondern eher liebevoll. Ich nenne sie „krava“ (tschechisch für „Kuh“), und sie nennt mich „prase“ (tschechisch für „Schwein“).
Nun hat sie mir letztens ihren USB-Stick mitgegeben, damit ich ein paar Fotos draufspiele.
Ich habe den Moment genutzt und eine kleine MP3 erstellt, in der ich sie mit tiefer und ruhiger Stimme auffordere, den Satz „Tereza je krava“ (Tereza ist eine Kuh) hypnotisch zu wiederholen. Ich habe noch Echos hinzugefügt, damit das Ganze wie eine trance-artige Meditation wirkt.
Nun, ich habe erreicht was ich wollte: Tereza hat sich kaputt gelacht. Und als kleines Dankeschön hat sie für mich die besagte Präsentation fertig gemacht.
Ich fasse die Geschichte kurz zusammen, weil man vielleicht die kleine Schrift bei YouTube nicht lesen kann. Das Video ist Lo-Fi. Powerpoint gefilmt mit meiner DigiCam, und anschließend noch komprimiert. Manche werden den Kopf schütteln. Und dennoch werdet ihr es Euch ansehen, weil toll ist und weil es von Herzen kommt. Also:

Es ist die Geschichte von Ben, dem Schwein. Ben isst viele Süßigkeiten, daher beschließen seine Eltern, ihn auf Reisen zu schicken. Irgendwann und irgendwo lernt er die Kuh Tereza kennen. Tereza hat ein Flugzeug und beide fliegen los. Über dem Dschungel in Indien geht ihnen der Sprit aus und sie stürzen ab. Irgendwann treffen sie ein U-Boot am Meer und der Kapitän lädt sie ein mitzukommen. Da Tereza aber Angst vor U-Booten hat, gehen sie weiter. Als nächstes erreichen sie einen Ort namens „Tramtarie“ (tschechisch für „Zauberwald“ oder „Märchenwald“). Dort wurde die Tochter der Königs von einem bösen Drachen entführt. Ben, das mutige Schwein, nimmt den Kampf auf und besiegt das Ungetüm. Zur Belohnung darf er die Prinzessin heiraten und bekommt mit ihr nicht weniger als neun Kinder. Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Tereza hingegen zog weiter und schickte Postkarten an das Paar nach „Tramtarie“. Die erste kam aus Griechenland...

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In der nächsten Woche schreibe ich dann wieder aus Deutschland. Dort werde ich hoffentlich einen ganzen Schub Bilder hochladen können. Ach Deutschland, ich freue mich auf Dich. Kaum zu glauben, aber bald ist Weihnachten und ich bin daheim. Vielleicht sehen wir uns. Es würde mich freuen!

Bis dahin: Kαλά Χριστοΰγευυα (Frohe Weihnachten)
Benjamin

Donnerstag, 13. Dezember 2007

Halbzeit in/m Marathon

Nach vielen Monden höre ich mir mal wieder die „Adore“ von den Smashing Pumpkins an. Neben mir liegt ein leckerer Joghurt, mit Müsli und frischen Orangen. Die Wohnung ist wie ausgestorben. Louis ist wahrscheinlich bei seiner niegelnagelneuen Flamme Kalliope, Ondrej beim Capoeira. Despina ist heute wieder angekommen und trinkt nun ausgiebig Kaffee mit Lucia, irgendwo in Athen.

Ich war bis vor einer Stunde auch noch unterwegs. Heute Nachmittag gab es eine englischsprachige Führung durch das „Archäologische Nationalmusem“, der wichtigsten Sammlung für antike Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke. Anfangs habe ich mich sehr über unseren Leiter gewundert, blieb dieser teilweise nur wenige Sekunden an einem Schaufenster mit kleinsten Utensilien aus der Antike stehen und huschte alsbald zum nächsten. Ich habe mir mehr Details gewünscht. Nach drei Stunden war jedoch klar, dass der gute Mann uns nur einen kleinen Überblick über diese riesige Sammlung von Schmuckstücken, Büsten, Statuen, Fresken, Vasen und Tempelsimse geben konnte. Achttausend Quadratmeter Antike. Ich habe noch nie so viele Büsten gesehen, weder in der Glyptothek in München, noch in den vatikanischen Museen und auch nicht im „British Museum“. Ich werde mir einige Sachen nochmal separat betrachten. Darunter wird bestimmt auch der kleine römische Nachbau einer Statue von Athene sein. Das Original war damals knappe 13 Meter groß. Die Arme, Beine und das Gesicht waren aus Elfenbein, während der Körper mit nicht weniger als 1150kg Gold überzogen wurden. Athen war damals eine sehr wohlhabende Stadt und konnte sich solche Schmuckstücke leisten. Heute würde man sicherlich anders darüber denken...

Ich leiste mir keinen Schmuck, dafür jedoch immer wieder einen Trip ins Umland. Gestern fuhren Tereza und ich nach Marathon. Dort angekommen, spazierten wir ein wenig auf einem Friedhof. Es war bereits mein zweiter Besuch auf einem griechischen Gottesacker.
Es gibt einige Unterschiede zu den Pendants in Deutschland: Zum einen sind alle Gräber aus weißem Marmor, welcher dem ganzen Ort ein großes Stück Tristesse nimmt. Zum anderen sind viele Grabsteine mit einer Art Vitrine ausgestattet, in welche die Angehörigen Fotos, Ketten und andere Gegenstände hineinlegen können. Das macht jedes Grab individuell und unverwechselbar. Es gibt auch manche Grabsteine mit wunderschönen Reliefs. Ich erinnere mich da an einen Stein, auf welchem Fischerboot auf dem weiten Meer dargestellt wurde. Auf dem Grab selbst lag ein rostiger Anker. Auf anderen wiederum sind kleine Gefäße befestigt, in die man Weihrauch hineinlegen kann. Somit riecht es immer ein wenig wie in einer Kirche. Die bösen Geister werden hiermit vertrieben, damit man auch morgen noch in Frieden ruhen kann.

Danach machten wir uns auf dem Weg zum Marathon-See. Nach einem etwas halbstündigem Fußmarsch war uns klar, dass unser Ziel weiter weg ist, als wir zunächst vermuteten und wir entschieden uns, per Anhalter zu fahren. Oder es zumindest zu versuchen. Und tatsächlich, nach dem 5. Versuch hielt ein junges Paar in einem 3er Coupe und nahm uns mit. Wären wir den Weg zum See gelaufen, wären wir wahrscheinlich erst in der Dunkelheit dort angekommen. Die beiden konnten ein wenig Englisch und so unterhielten wir uns auf der 15minütigen Fahrt über Athen, Deutschland und das Ski fahren, während der bärtige Mann am Steuer mehrere gewagte Überholmanöver ausführte. Die beiden ließen uns direkt am See raus und wir überquerten die Staumauer, um uns einen Weg zu suchen, der direkt um den blau-grün schimmernden Fleck führte. Vorbei am Dickicht und durch modriges Erdreich stiegen wir einen Abhang hinab, bis wir schließlich einen Pfad entdeckten. Was folgte, war ein nicht mehr für möglich gehaltenes Herbsterlebnis, welches ich für dieses Jahr eigentlich schon abgeschrieben habe. Ich sah gelbe und rote Blätter an Bäumen, füllte meine Lungen mit einer klaren, erdigen Luft und genoss die dunklen Wolken am Himmel, welche zwar bedrohlich aussahen, uns jedoch bis auf einen kleinen Nieselregen in Ruhe ließen. Die Landschaft hatte nichts mediterranes. Sie wirkte sehr mitteleuropäisch, und ich fühlte mich an einen milden Oktobertag am Edersee erinnert. Einen Großteil des Weges schwiegen Tereza und ich. Jeder sog die herbstliche Atmosphäre in sich auf und begab sich in seine eigene Welt. Fabelhaft. Irgendwann war jedoch klar, dass wir es nicht ganz um den See schaffen würden, zumindest nicht mit dem restlichen Tageslicht. Wir verließen den Pfad und folgten einer Geräuschkulisse, hinter der wir eine Stadt vermuteten. Die Sonne ging langsam unter, und wir befanden uns irgendwo in der Pampa. Unterwegs trafen wir wild streunende Hunde, die uns aggressiv anbellten und so heftig die Zähne fletschten, dass wir uns mit Stöcken bewaffneten und schnurstracks weitergingen. Sollte ich irgendwann mal graue Haare bekommen, so bin ich diesen am Sonntag ein großes Stück näher gekommen. Oh Mann, wir hatten echt Schiss, aber es ist ja alles gut gegangen. Ja wahrlich, was folgte war ein Happy-End. Kurz nach der Hunde-Attacke fuhr ein Auto an uns vorbei. Und wieder war es ein Paar, das anhielt, um uns mitzunehmen. Wir haben noch nicht mal den Daumen raus gehalten. Der Fahrer, ein ca. 40 Jahre alter Mann, sagte, wir hätten eben so ausgesehen, als könnten wir eine Mitfahrgelegenheit gebrauchen. Sein Ziel war „Metamorphis“, ein Stadtteil von Athen. Perfekt. Der Small-Talk war angenehm, und seine Freundin hatte Spaß daran gefunden, durch Tereza ein paar Dinge über Tschechien in Erfahrung zu bringen. Die meiste Zeit unterhielt sich jedoch das Paar. Ich versuchte ein paar Sachen zu verstehen, und zum ersten Mal überhaupt hier in Griechenland gelang es mir auch. Der Fahrer war irgendwann mal in Italien und wurde für einen Italiener gehalten. Als er jedoch sagte, dass er Grieche sei, war der Italiener überrascht und fragte ihn über verschiedene Fußballvereine in Athen aus. Das sagte der Mann seiner Freundin, die mindestens 10 Jahre jünger war als er. Wie dem auch sei: Ich fragte höflich, ob ich die Geschichte richtig verstanden habe und er nickte. Ich war froh und rang Tereza ein erstauntes Lächeln ab. Danach hörte ich mir den Monolog unseres Fahrers nicht mehr an, sondern schaute aus dem Fenster. Dort zeichnete sich die Kontur der athenischen Vororte ab. 20 Minuten später ließ der gute Mann uns an einer Metro-Station raus. Wir bedankten uns bei ihm noch etwas freundlicher als bei dem Fahrer zuvor, denn dessen Fußmatten haben wir nicht so sehr verschmutzt wie die seinigen...

Am selben Abend traf ich noch Florian, Markus und das französische Mädel, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann (Lolren, Nolren ?!). Zusammen schauten wir uns den aktuellen Film von David Lynch an. „Inland Empire“ beginnt unscheinbar. Alles scheint logisch und nachvollziehbar. Wer aber jedoch schon mal einen Film von Lynch gesehen hat weiß, dass es nicht lange so bleibt. Und so zerlaufen Realität und Scheinwelt so sachte ineinander wie geribbelter Käse in die Lücken eines Gratins im Backofen. Der totale Mindfuck. Tausend Fragen, keine Antwort. Ich habe keine Interpretation, und wenn ich sie hätte, wäre hier der falsche Ort dafür. Was für ein Streifen.

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Ich habe nun zwei Tage Pause gemacht und schreibe weiter. Im Hintergrund läuft gerade der letzte Song von Pink Floyds „Dark Side of the Moon“. Am heutigen Mittwoch fiel die Uni aus, weil so gut wie alle öffentlichen Einrichtungen bestreikt wurden. Bereits gestern liefen wieder unzählige Techniker an der Patission (Straße des 28.Oktober) herum und installierten erneut diese unglaublich großen Lautsprecher. Bühnen wurden aufgebaut und Plakate an die Laternen getackert.
Es gibt wohl ein neues Gesetzesvorhaben. Die Beamten sollen, ganz grob gesagt, für weniger Gehalt mehr arbeiten. Und so gibt es hier den nächsten Streik. Mittlerweile habe ich aufgehört sie zu zählen.

Lucia und Despina haben heute einem Tannenbaum-Verkäufer ein paar Zweige abgeluxt und diese in die Küche gestellt. Ich habe eine Lichterkette drumgebunden und den Stecker reingesteckt. Jetzt haben wir so etwas wie einen Christbaum in unserer Wohnung. Das Teil wirkt fast schon lächerlich, aber dennoch verbreitet es ein wenig Weihnachtsstimmung. Als Despina vorhin der Küche war, sang sie einige Weihnachtslieder. Lucia ließ einige stimmungsvolle Stücke wie „O Du Fröhliche“ aus ihrem Laptop erklingen. Neben ihr lag ein Zettel mit Keksrezepten ihrer Großmutter, die sie wohl am Wochenende backen möchte. Darunter auch Vanillekipferl, die mit den Zimtsternen zu meinen Lieblings-Plätzchen gehören. Warten wir es ab.
Hier in Athen wird es nun auch etwas weihnachtlicher, wenngleich sich dies nur auf die Straßenbeleuchtung beschränkt. Dort hängen nun leuchtende Sterne und auch ein paar Engel.
Die unzähligen kleinen Basare dieser Stadt sind überhäuft mit singenden, tanzenden und „Ho-Ho-Ho“enden Weihnachsmännern in Plastikform. Ihr kennt bestimmt diese kitschigen Spielzeuge, in die man Batterien hineinlegt, sie einschaltet und einmal darüber lacht, bevor sie anfangen zu nerven. Mir scheint, als sei vor wenigen Wochen eine ganze Armada von diesen Spielzeugen aus China in Piräus gelandet. Dieses leuchtenden, blinkenden und tönenden Dinger sind überall. Manchmal läuft man durch eine Allee von Spielzeugen, und deren Gebimmel wird zu einer abstrusen Symphonie. Fast noch schlimmer als der Lärm der Straße. Und dennoch bleibe ich manchmal bei einem dieser fliegenden Händler stehen, um über die lustigen Markennamen zu schmunzeln. Da verkaufen die Inder doch tatsächlich Socken von „Adibos“ oder Unterhosen von „Kalven Kleen“. Billige Motorradjacken mit dem Aufdruck der bekannten deutschen Biermarke „Warsetner“ sind ebenfalls zu finden. Bleibt man allerdings zu lange stehen, quatschen die Händler einem ein Kotelett an die Backe, und darauf habe ich keine Lust. Also schnell weg hier...

Etwas mehr Weihnachtsstimmung kam letzte Woche auf, als Julia, Silvana und Angela zum „Nikolaus Sit-In“ luden. Es gab Glühwein, selbst gebackene Kekse und auch Spekulatius. Das war ein schön. Merkwürdig war (mal wieder) die Temperatur, denn wir tranken unseren Glühwein auf dem Balkon. Einige von uns hatten nur ein T-Shirt an. Den meisten anderen reichte ein einfacher Pullover.

Und dennoch bleibe ich im meinem Zimmer, vor allem um zu Lesen. Für ein Seminar habe ich mir nun Christian Fürchtegott Gellerts Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G.“ durchgelesen. Ein Werk aus der Zeit der Empfindsamkeit. Es gab einige Momente, die sehr tragisch waren und das Schicksal einiger Aktanten mich wirklich berührt hat. Andererseits gab es auch Passagen, in denen die an den Tag gelegte Tugend so überbordend und unrealistisch war, dass ich mir beim Lesen des Buches unweigerlich an die Stirn tippen musste. Unfassbar ist zum Beispiel die Loyalität des Herrn R., der viele Jahre nach dem (vermeintlichen) Tod des Grafen neuer Ehemann der Gräfin wird und wiederum nach einigen Ehejahren erneut die Rolle des guten Freundes einnimmt, als der Graf zurückkehrt. Oder der Brite Steeley, der in russische Kriegsgefangenschaft gerät und von einem russischen Mitgefangenen übel gemobbt wird. Nachdem dieser brutal verdroschen wurde, bietet Steeley ihm etwas von den spärlichen Brotkrumen an, damit er überlebt. Goethe sagte ja schon: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“Aber diese Welt scheint mir doch zu irreal, wenn es auch viele tugendreiche Menschen geben mag. Vielleicht sollte es einfach nur eine Idealvorstellung widerspiegeln, und nicht die wahren Verhältnisse der damaligen Zeit dokumentieren.
Auch hier möchte ich mich, wie beim Film von David Lynch, nicht allzu tief einlassen. Ich möchte nur anmerken, dass mich dieser Roman zeitweise in eine andere Welt entführt hat. Ich vergaß Athen und sog die Zeilen in mich auf, so das die Zeit wie im Fluge verging. Das passiert mir nicht bei allen Büchern, und nun habe ich wieder eines entdeckt. Diese Tatsache freut mich und war ein kleines Highlight der letzten Woche.

Wenn wir schon mal beim Thema „Zeit“ sind, möchte ich schnell sagen, dass einige Erasmus-Studenten mittlerweile schon zu Hause sind, um das Weihnachtsfest vorzubereiten. Vor allem die Italiener können hier nicht schnell genug weg. Die meisten anderen werden in der kommenden Woche ihren Weg nach Hause antreten. Ich werde somit einer der letzten sein, die Athen verlassen.
Dafür komme ich wohl, mit Markus und Julia, am spätesten wieder. Wie wir drei letztens feststellten, nehmen wir den selben Flieger am 12. Januar.

Und nochmal die „Zeit“. Ende dieser Woche ist offiziell Halbzeit für mich und meine Zeit hier in Athen. Das Semester endet am 29. Februar. Ich spiele mit dem Gedanken, noch 1-2 Wochen länger hier zu bleiben und durch das Land zu reisen. Bei meinen Ausflügen ins Umland von Athen habe ich schon so viele Orte entdeckt, die meinen Glauben an ein anderes, schöneres Griechenland abseits der Hauptstadt aufrecht erhalten. Wie wird es wohl erst weit entfernt von diesem Moloch aussehen?!

Ich weiß allerdings, wie es in Dortmund und in Oer-Erkenschwick aussieht, denn in diesen beiden Städten habe ich den Großteil meines Lebens verbracht. In den letzten Tagen denke ich oft an ihre Straßen, Häuser und Parks. Diese Orte scheinen so unendlich weit entfernt, und doch werde ich bald wieder dort sein. Ich habe ein gemischtes Gefühl, welches sich aus Fernweh, Heimweh, Neugier, Ablehnung und Wertschätzung zusammen setzt. Ich werde meine Heimat wohl mit anderen Augen sehen. Alles wird mir bekannt vorkommen. Und dennoch wird mir dieses „alles“ leicht verfremdet unter die Augen treten. Ich sehne mich dorthin, und wenn ich einmal da bin, wird es vielleicht auch ganz schnell wieder wie gehabt. Dann freue ich mich bestimmt wieder auf Griechenland und begreife möglicherweise erst dann so richtig, was ich hier eigentlich habe. Das Gefühl der zeitlichen Begrenzung nimmt Überhand und ich sauge meine Umwelt intensiver auf als zuvor. Ich gehe hier bald weg, komme danach wieder, bin danach aber wieder weg und komme vielleicht nie mehr wieder. Dann werde ich irgendwann an die Menschen hier und meine gesammelten Erfahrungen denken, lächelnd ein Glas Wein schwenken und mir vielleicht ein paar Bilder ansehen. Wer weiß, wer weiß...
Meine Güte, ich werde ja fast schon sentimental. Bei all diesen Träumereien darf ich nicht vergessen, meine Hausarbeiten vorzubereiten. Für eine habe ich mir gestern die nötigen Unterlagen kopiert. Ungefähr 350 Seiten Papier.

Ich schließe diesen Eintrag mit meinem ersten Erfolgserlebnis an der Uni Athen ab. In meiner ersten Klausur (Sprachvarietäten-Sprachwandel) habe ich von 25 Punkten 24 erreicht. Schuhu.

Bis dann.
Benjamin

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Mein Video der Woche zeigt einen zufriedenen Mann.
Seht ihn Euch an und tut es ihm nach.

Montag, 3. Dezember 2007

Panique au village




Falls Ihr "Panique au village" noch nicht kennt, dann schaut Euch diese eine Folge mal an. Ein Cowboy, ein Indianer, ein Pferd und viele andere erleben die tollsten und absurdesten Abenteuer. Liebevoll gemacht, mit Spielzeugfiguren, Watte und einem dicken Schuss Humor. Wenn man einmal anfängt, kann man nicht mehr aufhören. Auch ohne Französisch-Kenntnisse richtig gut. A bientôt.

Phase 3-4

Sonntag Abend in Athen.

Ich bin ziemlich platt von einem Ausflug ins bergige Umland von Attika. Da ich in den nächsten Tagen sehr beschäftigt sein werde, möchte ich jetzt ein wenig von den letzten Tagen hier in Athen erzählen. Mein Zettel ist randvoll.


Ich möchte es nicht zur Gewohnheit werden lassen, aber ich fange auch heute mit einer schlechten Nachricht an. Jirka, mein mir mittlerweile doch sehr ans Herz gewachsene Tscheche vom Zimmer nebenan, ist vor einigen Tagen nach Hause geflogen, weil es ihm seit geraumer Zeit überhaupt nicht gut ging. Seine roten Backen sind einer schrecklichen Blässe gewichen, er hat Gewicht verloren und sich sehr häufig schwindelig gefühlt. Die Ärzte hier konnten nichts finden, und so entschloss er sich kurzfristig, in die Heimat zu fliegen und sich dort untersuchen zu lassen. Armer Jirka. Ondrej hat ihn ins Krankenhaus begleitet und mir von den Verhältnissen dort erzählt. Die Warteräume seien hoffnungslos überfüllt, und wenn ein Name aufgerufen wird, drängt sich ein Pulk von Menschen an die Tür, ganz gleich ob sie es sind oder nicht. Es zählt das Recht des Stärkeren und Ondrej war überrascht, welche Kräfte alte Menschen mobilisieren können, wenn sie unbedingt untersucht werden möchten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Keine Gnade.

Aus diesem ominösen Raum traten immer wieder Krankenschwestern mit Stullen, Rollstuhlfahrer und Pfleger, die die Betten von frisch operierte Patienten vor sich her schoben. Chaos ohne Ende.

Und dennoch: Wenn man es bis dorthin geschafft hat, hat man schon einen nicht unerheblichen Leidensweg hinter sich. Jirka wurde von Büro zu Büro, von Arzt zu Arzt geschickt, nur um die richtigen Papiere für die Hauptuntersuchung im Krankenhaus zu bekommen. Zermürbend.

Ondrej denkt außerdem, dass Jirka mit dem Auslandssemester generell nicht so gut klar kommt. Es ist sein erster richtiger Aufenthalt abseits seiner Heimat, dem 17.000 Menschen zählenden Ort „Jicin“. Sein Englisch ist nicht das Beste, und so gab es wohl häufig Verständigungsschwierigkeiten zwischen ihm und den Dozenten. Vielleicht ist sein Problem wirklich psychosomatisch. Alle untersuchten Werte waren OK... Jirka kommt im Januar wieder. Dann hoffentlich wieder mit roten Backen und dem lauten Lachen, welches ihn mir so überaus sympathisch macht.


In den letzten Tagen habe ich immer wieder Leute gesehen, die sich eine Erkältung eingefangen haben und nun etwas kürzer treten. Ich essen täglich meinen Apfel und die leckeren Orangen in meinem Joghurt, damit mir das alles erspart bleibt. Bei meinem letzten, kleinen Ausflug hatte ich eine leichte Rotznase aufgrund des scharfen Windes, der über das Olympia-Gelände fegte. Dennoch war es es wert, dort hinzufahren...


Nur 20 Minuten Metro-Minuten entfernt liegt das riesige Areal, auf welchem 2004 der Großteil der olympischen Wettkämpfe ausgetragen wurde. Es ist schon ein erhabenes Gefühl, wenn man direkt unter der riesigen Stahlkonstruktion steht, an deren Spitze für knapp vier Wochen die olympische Flamme brannte. Dabei sein ist alles, auch für die Besucher dieses Ortes.

Ich schlich ein wenig um das Stadion herum und fand schließlich ein offenes Tor, durch welches ein Fernsehteam Kabel und andere Sachen hinein schleppten (an diesem Tag spielte AEK Athen gegen den AC Florenz). Es schien keinen zu stören, dass ich ein wenig durch die Tribüne lief und alles auf mich wirken ließ...Das Olympia-Stadion von Athen...Björk singt „Oceania“ zur Eröffnung...Die Innenfläche des Stadions ist mit Wasser geflutet... Nord- und Südkorea marschieren gemeinsam ein...Live-Übertragung in über 100 Länder dieses Planeten...

Doch das ist nun über 3 Jahre her, und ich habe wirklich den Eindruck, als sei mit dem olympischen Feuer auch das Leben auf diesem großen Gelände erloschen. Im Wasserbecken tummeln sich ein paar Schwimmer, das Stadion wird (vorübergehend / Bau eines neuen Stadions) vom Fußballclub AEK genutzt. Was mit den anderen Hallen ist kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Fakt ist, dass dieser Ort einer Geisterstadt gleicht. Es sind kaum Menschen anzutreffen. Unkraut bahnt sich seinen Weg durch die zahlreichen Fugen. Müllsacke fliegen durch die Gegend und Schilder rosten vor sich hin. Es wurde wohl nicht nachhaltig genug geplant. Als Athen damals den Zuschlag für die olympischen Spiele bekam, tat sich ein paar Jahre erstmal gar nichts. Erst als der damalige IOC-Präsident den Entzug der Spiele androhte, kam man endlich in Bewegung. Das Ende ist bekannt: Auf den letzten Drücker wurden Nachtschichten geschoben, um alles rechtzeitig fertig zu bekommen. Man munkelt, dass einige Schrauben bei der Eröffnungsfeier noch nicht so fest geschraubt waren, wie es eigentlich nötig gewesen wäre. Sei es drum. Der ganze Spaß hat zwar knapp 6 Milliarden Euro gekostet, brachte aber dennoch Gewinn ein. Heute jedoch werden diese großartigen und modernen Wettkampfstätten jedoch kaum genutzt, und das ist sehr schade.


Mein Sport in Athen ist, neben ein paar Sit-Ups und Liegestützen, der alltägliche Weg von der Uni bis zur Mensa in Exarchia, und dann nach Hause, geworden. Je nach Weg brauche ich dafür 45-60 Minuten. Nachdem hier ich nun das Joggen endgültig aufgegeben habe (macht einfach keinen Bock in Athen), gehe ich einfach jeden Tag durch die Straßen dieser Stadt und finde so meinen körperlichen Ausgleich. In Zografou, dem Stadtteil in welchem die Uni ist, ist es auch sehr angenehm zu laufen. Man findet in auf diesem Hügel sehr schöne Straßen, die mich an Bilder aus San Francisco erinnern. Mittags gibt es oft einen Markt auf der Straße, mit buntem Obst und Gemüse und nicht weniger grellen Schreihälsen, die sich gegenseitig die Preise um die Ohren hauen. Aber meistens gehe ich Abends nach Hause, nach dem Sprachkurs...


Dieser hat sich sehr schnell sehr drastisch geleert. Fingen wir Ende Oktober noch mit ca. 30 Leuten an, sind es mittlerweile fast nur noch knapp 10 Leute, die wirklich regelmäßig dabei sind. Und die Leute, die sich eine oder mehrere der knapp dreistündigen Sitzungen entgehen lassen, haben danach oft nicht die Motivation, sich den ganzen Stoff selber nochmal anzueignen. Das Tempo ist nach wie vor sehr hoch, und ich habe auch meine Probleme mit dem Griechischen. Vokabeln sind natürlich das A und O, aber auch bei der Konjugation hapert es noch. Darüber hinaus gibt es so fiese Dinge wie geschlechterspezifische Adjektive. Auf dem Papier ist die Sprache gar nicht so schwierig. Man müsste sich einfach mehr mit ihr auseinander setzen. Vielleicht würde ich es machen, wenn die Credit Points für den Test im Januar für mich unerlässlich wären. Sind sie aber nicht. Und dennoch möchte ich den Test schreiben, ganz gleich wie er ausgeht. Allein schon, weil ich eine Wette mit Tereza laufen habe...


Wir wetten nämlich darum, wer das bessere Ergebnis einfährt. Gewettet wird um nichts. Um die Ehre vielleicht, wenn überhaupt. Aber darum geht es auch gar nicht. Mit Tereza kann man nicht nur wetten, sondern auch reden, spazieren gehen, herum albern, trinken gehen, einfach mal nichts sagen, tschechisch lernen, Ausflüge machen, herum lärmen und sich manchmal auch gegenseitig boxen. Sie ist der perfekte Kumpeltyp für meine Zeit hier in Athen. Zum einen, weil wir generell sehr viele Ansichten teilen, und zum anderen, weil wir beide nicht zu den Typen gehören, die das Auslandssemester zum „Austoben“ nutzen. Es ist, wenn man das nach der kurzen Zeit überhaupt sagen kann, ein sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen uns gewachsen. Vielleicht auch in dem Bewusstsein, dass man nur einmal soviel Zeit miteinander verbringt. Ich mag ihre humorvolle, offene und direkte Art im Umgang mit Menschen. Sie ist ein sehr sympathisches, leicht verrücktes und flippiges Wesen, das mich häufig zum Lachen bringt. Sie hat mich schon zu sich und ihrem Freund nach Brno in Tschechien eingeladen, und mit jedem Tag kommen neue Sachen hinzu, die sie mir dort zeigen möchte. Normalerweise bin ich immer sehr vorsichtig mit Zusagen jeglicher Art, aber es gibt Menschen, die wirklich das Leben bereichern und bei denen der Kontakt nicht abbrechen lassen sollte. Hier in Athen gibt es einige Leute, auf die ich echt große Stücke halte und mit denen ich vielleicht auch nach ERASMUS in Verbindung bleiben werde. Tereza ist aber eben die erste, bei der ich das mit Gewissheit sagen kann.

An den letzten drei Highlights der vergangenen Tage war sie auch mit dabei. Zwei Ausflüge, und ein Konzert. Aber immer der Reihe nach...


Nachdem es mir Mitte / Ende November nicht so gut ging, beschloss ich bekannterweise, mich mindestens einmal pro Woche dem Trubel hier zu entziehen. Den Anfang machte ein Ausflug nach Kap Sounion, an den Südzipfel Attikas. Auf dem ca. 1 ½ stündigen Weg dorthin fuhren wir permanent an der Küste entlang. Die Sonne schien durch die großen Fenster, und draußen sah man tatsächlich Schwimmer im Meer. Es tut mir wirklich leid, wenn ich den einen oder anderen daheim damit neidisch mache, aber es ist hier einfach so ;-)

Wie dem auch sei. Wir fuhren zu viert (Florian, Sebastian, Tereza und ich) an diesen Ort, an dessen höchsten Punkt ein unglaublich schöner Tempel steht, welcher dem Meeresgott Poseidon gewidmet ist. Dort angekommen wanderten wir etwas herum und suchten die Nähe des Meeres. Es war Balsam für die Seele, dem Kommen und Gehen der Wellen zu lauschen und die leicht salzige Luft zu schmecken. Ich schoss Fotos von einigen Pflanzen auf einem Felsvorsprung und legte mich danach einfach hin, um für ein paar Minuten abzuschalten. Ich konnte spüren, wie meine Batterien sich mit jedem Atemzug regenerierten und wie wertvoll diese Momente für meine kommende Woche in Athen sein würden. Auch wenn ich spätestens seit diesem Jahr eher ein Freund der Berge als ein Freund des Meeres bin, so gab mir dieser Tag doch sehr viel Kraft. Nicht zu vergessen die tolle Aussicht, die sich besonders zum Sonnenuntergang bot. Langsam aber sicher schluckte der Horizont den glühenden Feuerball. Pärchen knutschten sich, und sie hätten vorher sicherlich gerne ihre Namen in den Marmor des Tempels geritzt, so wie es viele Liebende über Jahrzehnte gemacht haben. Dieser ist nun aber abgesperrt und darf nur noch angeguckt und fotografiert werden. Selbst Lord Byron müsste sich das heute verkneifen. Der bekannte Lyriker, Feldherr und Lebemann hat diesen Ort seinerzeit des öfteren aufgesucht. Dies jedoch immer mit wechselnder weiblicher Begleitung...


Tolle Begleitung hatte ich am gesamten Wochenende. Freitag wollten Markus, Gregor, Florian, Iwo, Lonrel und ich zum „Art Brut“ Konzert. Markus hat in seiner kecken Art die Band einfach angeschrieben und gesagt, dass wir (in dem Fall nur Markus, Gregor und ich) arme Erasmus-Studenten seien und uns wahnsinnig darüber freuen würden, die Band live zu sehen. Art Brut antwortete auch tatsächlich und teilte mit, dass sie kein Problem darin sähen, uns auf die Gästeliste zu setzen. Als wir dann vor dem Club standen, waren unsere Namen nicht vermerkt. Schade. 25€ wollte ich nun nicht dafür zahlen, also sind wir losgezogen und haben später auch eine andere Party gefunden...Viel toller war aber der gestrige Abend. Wir (Ondrej, Markus, Gregor, Tereza, ein mir unbekannter Norweger samt seiner mir unbekannten französischen Freundin plus moi) gingen in den Rodeo-Club, um uns die, laut BBC, beste „Led Zeppelin Tribute-Band“ anzusehen. Nachdem uns die vier Herren lange Zeit haben warten lassen, kamen sie endlich auf die Bühne und legten mit „Immigrant Song“ einen richtigen Kracher vor. Es folgten viele bekannte Stücke wie „Babe I'm gonna leave you, Kashmir, No quarter, Stairway to Heaven, Dazed and Confused...“. Technisch hatte es die Band wirklich drauf, wenn gleich ich vom Sänger zu Anfang etwas enttäuscht war. Im Laufe des Konzertes steigerte sich der Lockenschopf aber und wenn man die Augen schloss, sich dem Sound hingab und dann wieder auf die Bühne blickte, hätte man für einen Moment wirklich meinen können, auf einem Konzert von Led Zeppelin zu sein. Das richtige Outfit hatten die Jungs. Besonders der fesche Jimmy Page-Verschnitt an der Gitarre setzte auch durch seine sehr enge Stretch-Hose samt passendem Oberteil Akzente. Aber darum ging es nicht: Es war für mich ein echter Genuss, mir Led Zeppelin Songs live anzuhören. Ich habe getanzt, wie ich schon seit Monaten nicht mehr getanzt habe. Unglaublich intensiv und schön das Ganze, wenn mir auch das Konzert selbst etwas zu lang ging. „Let Zep“, so hieß die Band, hatte ein über dreistündiges Programm. Dazu kam, dass „Jimmy Page“ sich bei manchen Soli in einen minutenlangen Rausch spielte. Meine Ohren klingeln noch heute von dem Konzert.

Da half auch nicht der Ausflug in die Bergwelt Attikas...


Tereza und ich fuhren heute gegen 11h in einen Vorort von Athen, von welchem aus wir in Richtung eines Bergmassivs wanderten. Gegen 13.30h erreichten wir die „Koukaki-Hohle“, welche erst 1929 entdeckt wurde. Damals fiel ein Schaf in ein ca. 20 Meter tiefes Loch. Der Schäfer stieg hinunter, und fand sein Schaf umgeben von Stalaktiten und Stalakmiten. Die Führerin war so freundlich und erklärte nur für uns beide alles auf Englisch, obwohl wir die beiden einzigen Nicht-Griechen in der Gruppe waren. Die Höhle selbst ist wahrlich einer der unheimlichsten und gleichzeitig schönsten Orte, an denen ich jemals zugegen war. Diese Mischung aus dunklem, feuchten Raum, gepaart mit der Lichtinstallation und den bizarren Formen des Tropfsteins ist einfach faszinierend. Ich sah ein Gebilde, das mich an eine Kirchenorgel erinnerte. Auf dem ersten Blick hätte man wirklich meinen können, die Pfeifen erkennen zu können. Dieses über 3 Meter hohe Naturkunstwerk ist mehr als 2 Millionen Jahre alt. Der Gedanke, dass 1cm Tropfstein sich in 100 Jahren bildet, gibt dem Faktor Zeit eine ganz andere Dimension. Ein Trip in die Vergangenheit... Zum Abschluss der Führung wurde eine Lichtorgel eingeschaltet, welche den Stein in warmes Licht hüllte. Im Hintergrund lief klassische Musik. Toll.


Die Höhle selbst ist auf halber Höhe des Berges, den wir bestiegen. Die Führerin teilte uns mit, dass der Berg vom Militär genutzt wird und nicht passierbar ist. Dennoch packte uns der Ehrgeiz, ein paar Meter hoch zu klettern, um die Aussicht zu genießen. Nach wenigen Metern steilen Aufstiegs über Schotter und Felsplatten war uns klar, dass es keine leichte Sache werden würde, nach oben zu gelangen. Manch ein Stein erwies sich als lose, und so überprüften wir jeden Handgriff mindestens zweimal, bevor wir uns wirklich irgendwo festhielten oder abstützten. Teilweise krochen wir auch auf allen Vieren den Berg hinauf, und manchmal hatten wir beide auch Angst, besonders vor dem Abstieg. Naja, letztendlich haben wir es doch geschafft und sind ein sehr großes Stück nach oben gekommen. Wir hatten einen wunderbaren Blick über den Osten Attikas, konnten den süd-östlichen Ausläufer Athens sowie den Flughafen erkennen. Am Horizont sah man das Meer bläulich schimmern. Dann saßen wir eine Weile dort oben in der Stille, und jeder fuhr seinen eigenen Film. Da war sie wieder. Die Stille, die ich in den Dolomiten so zu schätzen gelernt habe. Mir scheint, als habe man auf einem Berg den Überblick über beinahe alles. Sowohl über das Tal unter sich, als auch über sich und sein Innenleben. Man steht, im wahrsten Sinne des Wortes, über den Dingen. Alles scheint klein und weit weg, und dennoch verfällt man nie in eine Form von Naivität, die einem zur Ausblendung der Realität verleitet. Man denkt anders nach. Aus einem anderen Blickwinkel, aus einer anderen Sicht...


Der Abstieg war, wie erwartet, lang und beschwerlich. Ich bin auch gelegentlich weg gerutscht und habe nun leichte Schürfwunden an den Unterschenkeln. Meine Eltern schütteln bestimmt den Kopf, wenn sie das hier lesen. Aber lasst Euch gesagt sein: Wir kamen sicher unten an, liefen zur Bushaltestelle und fuhren anschließend zurück nach Athen. Und das war es alles wert, keine Frage.

Nach einer heißen Dusche und einer Pita sieht die Welt wieder ganz anders aus...


Und jetzt bin ich wieder hier in meinem Bett und tippe. Heute, am ersten Advent. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Vorweihnachtszeit nicht in Deutschland verbringe. Auch wenn an vielen Stellen dieser Stadt Weihnachtsbeleuchtung montiert ist und mein Lieblings-Supermarkt Plastikbäume samt Lametta anbietet, möchte sich noch nicht so recht die dementsprechende Stimmung einstellen. Vielleicht liegt es an der Temperatur, vielleicht auch an der allgegenwärtigen Hektik Athens, die jeden Funken Idylle sofort im Keim erstickt. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich momentan einfach mehr für die Uni zu tun habe und der diesjährige Dezember noch sehr sehr jung ist. Spätestens Heiligabend wird sich dies jedoch ändern...


Ja, ich habe nun mehr für die Uni zu tun. Vielmehr möchte ich noch im alten Jahr einen dicken Batzen meines Gesamtpensums erledigen, damit ich im Januar / Februar etwas ruhiger starten kann.

Das Dezemberprogramm sieht wie folgt aus: 2 Referate, Lesen eines Buches plus Sekundärliteratur, Zusammenfassen eines anderen Buches, Lernen für den Sprachkurs. Wenn ich das alles packe, kann ich ohne schlechtes Gewissen nach Deutschland fliegen. Und damit ich das auch packe, werde ich nun das Schreiben einstellen. Mittlerweile haben wir hier 2h, und mein erstes Seminar beginnt um 11h. Ich kann aber nicht aufhören, ohne Euch kurz von meinem Video der Woche zu erzählen. Es ist ein kleiner, billiger Take von meinem bisherigen Lieblingsort in Athen. Er befindet sich kurz unterhalb der Akropolis, die man auch auf dem Video sehen kann. Vor zwei Wochen war ich dort und habe dort den Sonnenuntergang aufgenommen. Das vorherige Gewitter hat mir noch ein paar Wolken am Himmel gelassen, um das Ganze optisch abzurunden.


Take care. Benjamin




P.S: Despinas Freund ist nun, nach dem Unfall und einiger Zeit im Krankenhaus, wieder wohlauf.

„Des“ selbst ist noch in Stockholm.


P.P.S: Die Studentenproteste in Exarchia waren wohl weit weniger gewalttätig als angenommen. Vielleicht hat auch das schlechte Wetter an diesem Wochenende die Leute davon abgehalten, mit ihren roten Flaggen auf die Straße zu gehen. Who knows.


P.P.S: Nein, wir haben immer noch keinen eigenen Internet-Anschluss.

Donnerstag, 22. November 2007

The downward spiral

Chris Isaak und sein „Wicked game“ eröffnen den musikalischen Reigen heute Abend. Es folgen Lou Reed, Primal Scream und die Cranberries. In der Küche sitzen alle meine Mitbewohner und trinken Glühwein. Wir hatten ein kleines Barbecue und redeten über Gott und die Welt, aber jetzt habe ich mich abgeseilt und auf mein Bett gesetzt. So wie jede Woche, so wie jeden Tag.


Kurz zuvor habe ich noch mit Despina gesprochen. Ihr geht es zwar etwas besser als letzte Woche, aber die Sache ist natürlich noch lange nicht ausgestanden. Sie erzählt mir viel von ihren Gedanken und Träumen, die wir dann manchmal auseinander klabüsern. Die merkwürdigste Geschichte war jedoch, dass sie und ihre Geschwister beim Tod ihres Vaters allesamt zur gleichen Zeit aufgewacht sind. Mitten in der Nacht rissen drei Menschen ihre Augen auf und blickten hinaus auf den Sternenhimmel. Irgendwie haben sie gemerkt, dass etwas geschehen ist...

Nächste Woche fliegt sie für die Beerdigung und alles andere nach Stockholm. Es graut ihr jetzt schon vor diesen Tagen in der Heimat. Sie wird die Familie sehen und versuchen, alles zu erledigen, was sie sich vor die Brust gesetzt hat. Hier in Athen hat sie eine Bekannte, die ihre Eltern vor einigen Jahren verloren hat. Durch sie kann sie mehr Kraft schöpfen als durch Gespräche mit uns.

Geteiltes und gelebtes Leid ist halbes Leid.



Die letzte Woche war eine sehr kraftraubende Woche für mich. Es lag nicht daran, dass ich so viel für die Uni machen musste, sondern eher daran, dass ich selbst kraftlos war. Und vielleicht auch immer noch bin. Ich habe mich in meinem Zimmer verschanzt, Musik gehört und Schach gegen meinen Computer gespielt. Keine Lust auf nichts und niemanden. Ich habe bewusst den Schlaf gesucht und ihn auch gefunden. Es ist unglaublich, wie müde mich diese Stadt macht. In der Regel reichen mir sieben bis acht Stunden, hier in Athen müssen es mindestens neun sein. Nach der Uni komme ich nach Hause und lege mich ins Bett, für mindestens eine Stunde. In der Nacht kommen dann nochmal acht bis neun Stunden hinzu. Dann wache ich auf und fühle mich so windig, dass ich mich gleich wieder hinlegen könnte. Acht Wochen Athen haben mich schon sehr in Mitleidenschaft gezogen. Von daher habe ich beschlossen, mindestens einen Tag in der Woche aus der Stadt hinaus zu fahren. Am kommenden Wochenende werde ich wahrscheinlich einen Ort am Meer besuchen, an dem ich dann hoffentlich meine Akkus wieder aufladen kann. So kann es jedenfalls nicht weitergehen...


Meinen Mitbewohnern wurde es irgendwann zu bunt, und sie haben mich mehr oder minder in die Küche gezerrt. Wir hatten das Wochenende Besuch von einem tschechischen Paar, und Samstag wurde in der Küche so richtig auf die Kacke gehauen. Ich saß an meinem Schreibtisch und habe irgendeinen Dreck im Internet angeklickt, als plötzlich Louis bei mir in der Tür stand und mich „ultimativ“ aufforderte, der Gesellschaft beizuwohnen. Wie sich herausstellte, war das die beste Entscheidung des Abends. Nach weniger als zehn Minuten hatte ich drei Pinnchen mit tschechischem Rum intus. Jirka war Koch, DJ, Barkeeper und Entertainer in einer Person. Er hat sogar extra vegetarisch für mich gekocht, damit ich auch mal aus meinem Zimmer komme. Ich war schwer beeindruckt und habe mich in das Getümmel gestürzt. Wir sangen tschechische Schlager und fluchten wild herum, bis wir irgendwann die Stühle beiseite räumten um zu tanzen. Die Stunden zogen ins Land und ich fühlte mich nach einer kleinen Ewigkeit wieder etwas wohler in meiner Haut. Die Sonne schickte schon ihre ersten Strahlen durch das dichte Wolkenkleid, als ich ziemlich angeschlagen in mein Bett fiel. Ein tiefer Schlaf umfing mich, welcher über acht Stunden andauerte. Es gewitterte zunächst, aber ich schnürte nach dem Frühstück meine Schuhe und zog eine Regenjacke an, um zum Tempel des Zeus zu gehen, ganz in der Nähe der Akropolis. Die Wolken lösten sich auf, und ein fahles Licht umhüllte die massiven Säulen. Um mich herum sausten Japaner, Spanier und Briten, als ich meinen Kunstführer aufschlug. Als ich dann las, dass dieser Tempel unter der Tyrannis der Peisistratiden angefangen wurde, fühlte ich wie noch nicht zuvor, dass ich mich in der griechischen Hauptstadt befinde. Im vorletzten Semester besuchte ich ein Seminar zum Thema „Athenische Demokratie“, und in der Hausarbeit schrieb ich auch über den Tyrannen Peisistratos und seine beiden Söhne, welche vor über 2500 Jahren die Macht inne hatten.

Für einen Moment fühlte ich mich präsent wie schon lange nicht mehr. Das Wissen und der Ort durchströmten mich, so dass ich für einen Augenblick Eins mit ihm wurde. Fast wie letztes Jahr in Rom, als ich durch die alten Stätten lief und mir die Bauten, Statuen und Gemälde ansah, welche ich zuvor nur auf Dias betrachten konnte. In diesem Momenten lernt man die Zeit zu schätzen, die man an einem besonderen Ort verbringt. Die alltägliche Selbstverständlichkeit löst sich auf. Ja, ich bin in Athen, ich studiere hier fast ein halbes Jahr. Ja, ich habe ein halbes Jahr Zeit, um mir alles anzusehen. Bullshit, ich habe mir bis dato kaum etwas angesehen. Es ist verführerisch zu sagen, dass man genug Zeit hat, sich alles wichtige anzusehen. Man hat die Zeit, aber man macht es dann doch nicht. Zumindest habe ich das bisher so gemacht. Das Wetter wiederum lädt einen gerade jetzt zu einem Museumsbesuch ein. Also, worauf warten sie noch Herr Mohren?!


Am selben Abend habe ich noch meinen Lieblingsort besucht. Es ist eine alte Ruine kurz unterhalb der Akropolis, von welcher aus man fast die ganze Stadt sehen kann. Sie liegt einem sprichwörtlich zu Füßen. Ein Teppich von weiß-grauen Häusern, der sich die Hügel hinaufwälzt und kurz vor dem Meer seine Fransen in die Gischt legt. Hier versammeln sich dann die Touristen, die Einheimischen, die Einsamen und die Verliebten. Sie küssen sich vor dieser Kulisse die Münder wund, und sie haben sich dafür den vielleicht schönsten Ort ausgesucht. Besonders an diesem Abend, als die Wolken und die untergehende Sonne über Piräus dem Himmel ein einzigartiges Farbenkleid auftrugen. Unfassbar schön. Sollte es in unserer WG endlich Internet geben, so werde ich einige Bilder hochladen. So etwas muss man gesehen haben...


Wie ihr dem letzten Satz entnehmen könnt, haben wir noch kein Internet. Unsere Vermieterin Sissi denkt sich jede Woche eine neue Ausrede aus, um unseren Fragen zu entgehen. Seit Wochen warten wir nun auf das Modem. Es liegt bereits beim Vodafone-Händler, welcher angeblich keine Kreditkarte akzeptiert. Bar bezahlt Sissi nicht, aus Prinzip. Vielleicht hat sie das von ihrem amerikanischen Ehemann übernommen. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass wir langsam aber sicher sehr sauer auf sie werden. Nicht nur wegen des Internets. Sissi hat die Angewohnheit, sich in jede Kleinigkeit einzumischen, sei es persönlich oder nicht. Dabei kann sie sehr taktlos, unfreundlich und respektlos sein. Da hilft dann auch ihr breites Grinsen nicht mehr weiter. Uns sind jedoch die Hände gebunden. Wir müssen warten, bis sie die pomadige Dame aus ihrem Haus bequemt und uns endlich das Modem bringt...




Durch meinen Durchhänger hatte (und habe) ich eine recht ereignislose Woche. Es gibt nichts, was ich weiter berichten könnte und wollte. Vielleicht putze ich mir jetzt die Zähne und lege mich schlafen. Aus der Küche höre ich jedoch noch Ondrej und Jirka, und vielleicht trinke ich noch ein Glas Wein mit ihnen.


Alles wird gut.

Benjamin




Das Video der Woche soll Aufschluss über meinen Eskapismus der letzten Woche geben. Es ist unglaublich, was man sich alles ansieht, nur um ein Stück Heimat und Bekanntes um sich zu haben.

Schrecklich.

Donnerstag, 15. November 2007

Interferenz

Wie ich heute feststellen musste, kann man sich das schöne Video von "Puscifer" nur als YouTube-Mitglied anschauen. Das ist schade, aber ich habe für Ersatz gesorgt.

Ab Freitag haben wir hier, nach Aussage unserer Vermieterin Sissi, endlich Hi-Speed Internet. Dann werde ich auch neue Fotos hochladen.

Noch ein Nachtrag zum Thema Kommunismus: Donnerstag und Freitag fällt der Unterricht an allen Unis in Athen aus, da die Feierlichkeiten zum 17. November anstehen. Vor 33 Jahren wurde nämlich die Militär-Junta in Griechenland beendet. Davor mussten jedoch ein paar Studenten ihr Leben lassen (darum auch das Polizei-Verbot auf allen Campus hier in Athen). Diesen Menschen und Momenten wird gedacht, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren:

- Das Gelände um die Polytechniou wird seit heute mit riesigen Lautsprechern ausstaffiert.

- In unserer Fakultät fand eine lautstarke, kämpferische und gutbesuchte Veranstaltung der studentischen Linken statt. Man stimmt sich ein für das Wochenende.

- Einige Dozenten warnten uns davor, Freitag und Samstag ins Studentenviertel Exarchia zu gehen. Die Polizei ist an diesen Tagen wohl übermäßig gereizt und schlägt gerne mit dem Knüppel um sich. Auch, wenn keine Gefahr droht.

- Man erwartet das alljährliche Szenario: Die Studenten werfen mit Steinen und verschanzen sich dann auf das Uni-Gelände. Die Polizei steht dann davor und wirft Tränengas auf den Campus, bis irgendwann alles vorbei ist.


Uns stehen also heiße Tage bevor.

Mittwoch, 14. November 2007

Kummer, Klischees und Kommunismus

Woche Nummer Sieben in der südlichsten Hauptstadt Europas. Ein verranzter und verregneter Dienstag liegt hinter mir, und Eric Clapton gibt mir den Rest. Unplugged.

Aus dem Nachbarzimmer höre ich Louis und seine neue Flamme Sara herumtollen. Ansonsten ist es ruhig, besonders heute Abend. Mein französischer Mitbewohner hat die schlimmen Nachrichten noch nicht gehört, die die Stimmung in der WG drückt...

Despinas Vater ist heute in Schweden gestorben. Die Arme läuft den ganzen Tag durch die Wohnung, weiß weder ein noch aus. Jeder von uns hat einen Klos im Hals und möchte ihr gerne helfen, aber keiner weiß wie. Der Tod ihres Vaters ist für sie der zweite Schicksalsschlag innerhalb einer Woche. Vor wenigen Tagen hatte ihr Freund einen Autounfall, den er schwer verletzt überlebte. Seine beiden Cousins hingegen sind dabei ums Leben gekommen. Bisher hat ihm noch niemand von dieser Tragödie erzählt. Arme Despina. Erst gestern haben wir uns darüber unterhalten, wie wir schlechte Nachrichten aufnehmen und damit umgehen. Wir waren uns einig, dass wir in den ersten Tagen allein sein möchten, bevor wir mit jemandem darüber reden. Und heute geschieht solch etwas schlimmes. In den letzten Wochen war ich des öfteren das offene Ohr, an das sie sich wandte, wenn irgendwo der Schuh drückte. In den nächsten Tagen werde ich mich mit Fragen nach ihrem Wohlbefinden zurückhalten. Vielleicht hilft ihr dann eine Umarmung mehr als aufmunternde Worte. Ich weiß es nicht.


Eine kurze Pause. Neben mir liegt ein kleiner Zettel mit Notizen, die ich während der letzten Tage gemacht habe. Es fällt mir gerade nur schwer, davon zu erzählen. Anstelle dessen gibt es nun diesen Zeilen. Stream of consciousness. Eric Clapton singt „Tears in heaven“, draußen erklingt eine Polizeisirene, es ist 23:12h. Ich wage mich an den ersten Punkt meines Zettels:


Dort habe ich vermerkt, dass ich über meine WG schreiben möchte. Vielmehr über das Glück, in diesem internationalen Kessel Buntes gelandet zu sein. Wir verstehen uns nach wie vor gut, gehen gelegentlich zusammen aus und achten immer noch darauf, dass das Geschirr nach der Benutzung gespült wird. Jeder gibt sich Mühe, dieses tolle Gemeinschaftsgefühl aufrecht zu erhalten. Man lacht, lebt und, wie heute erfahren, leidet zusammen. Das finde ich wunderbar.

Ich kenne andere Wohngemeinschaften, die von solch einer Atmosphäre nur träumen können. Eine Bekannte zum Beispiel muss sich ihr Zimmer mit einem streng-katholischen Mädel aus Rumänien teilen. Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich an einer Hand abzählen, und so wird die tägliche Fahrt nach Hause zum gedanklichen Spießrutenlauf. Da hilft es auch nicht, wenn ihre zweite Mitbewohnerin aus Italien sich oft an ihre Seite stellt. Sie ist bei weitem nicht die Einzige, die das eine oder andere Problem mit ihren Mitbewohnern hat. Von daher bin sehr froh darüber, in dieser WG zu leben. Bei sechs verschiedenen Menschen aus vier verschiedenen Ländern hätte es durchaus auch eine explosive Mischung geben können. Wir Ihr hier jedoch lesen könnt, kam alles ganz anders.


Plattenwechsel. Tori Amos – Scarlet's walk.

Ich erzähle Euch nun ein wenig von der Aufmüpfigkeit des griechischen Volkes. Radikale Reformen sind in diesem Land nicht einfach durchzusetzen. Und wenn es die Regierung oder das Parlament dennoch versucht, dann gibt es Demonstrationen und Streiks. Letzten Monat habe ich allein vier Demonstrationen und einen Streik miterlebt. Letzte Woche protestierte der Dachverband der Menschen mit Behinderungen gegen Einsparungen, und stellte seinen Stand kurzerhand auf eine der Hauptverkehrsadern dieser Stadt. Busse mussten umgeleitet werden, die blaue U-Bahnlinie Richtung Flughafen war hoffnungslos überlaufen.

Die Polizei ist allgegenwärtig, mit Maschinengewehren und auch mit Handgranaten. Die Schlagstöcke sind obligatorisch. Dann läuft mir jedes Mal ein kleiner Schauer über den Rücken, wenn ich sie irgendwo stehen sehe. Der Staat möchte Stärke zeigen. Und die Studenten zeigen, worin sie ihre ideologische Kräfte ziehen. Es ist unübersehbar. Gleich beim Betreten der Uni sieht man sie, die roten Plakate. Auf einem fegt Lenin mit einem dicken Besen die Bonzen vom Globus, ein anderes zeigt ihn in erhabener Rednerpose. 1917: Das Jahr der russischen Revolution. Und eben diese ist wohl auch historisches Vorbild für viele griechische Studenten. Was vor neunzig Jahren geklappt hat, kann wohl heute auch funktionieren. Wenn es denn funktioniert hätte. Der Kommunismus sieht auf dem Papier immer gut aus, aber in der Wirklichkeit? Wenn meine tschechischen Mitbewohner diese Plakate mit den unzähligen Hämmern und Sicheln sehen, dann können sie nur den Kopf schütteln. Sie haben diese Zeit nicht bewusst miterlebt, aber von ihren Eltern genug Geschichten gehört. Von Diktatur, Mangelwirtschaft, Unterdrückung etc...


Nichts desto trotz sind die Athener Universitäten fest in der Hand der studentischen Linken. Die Fassade der AUEB (Athens University of Economy and Business) könnte man auf dem ersten Blick für einen kommunistischen Jugendhort halten. Die Zäune sind von Transparenten bedeckt, auch die Wände sind mit Bannern überzogen. Im Gebäude selber stehen dutzende Stellwände mit selbst gebastelten Plakaten und Flyern. Man geht hier couragiert zu Werke und sieht sich wohl als Kern einer revolutionären Bewegung. Ich bewundere das politische Engagement der Studenten hier in Athen. Studiengebühren waren hier für kurze Zeit ebenfalls geplant, aber nach einer Massendemo wurde diese Idee sofort wieder auf Eis gelegt. Andererseits sind mir ihre Ideen und Vorstellungen zu radikal und vor allem geschichtlich nicht genug hinterfragt. Ich habe den Eindruck, als sähe man nur die Vorteile des Kommunismus, blendet aber die Nachteile vollkommen aus. Aber das ist nur meine Meinung. - Bald stehen sie sich wieder gegenüber: Die Polizisten zur Rechten, die Studenten zur Linken. Vielleicht noch in dieser Woche.


Tori singt gerade eines meiner Lieblingslieder auf diesem Album: I can't see New York.

Gestern habe ich mir ein paar Balladen von Westernhagen angehört und so auch mal wieder einen deutschen Text mitgesungen. Ich erwähne das hier nur, weil ich letztens in eine französischen WG eingeladen wurde und mehrere Stunden lang ausschließlich französische Musik lief. Mir hat sich eine kleiner Kosmos geöffnet, als ich Stücke von Serge Gainsbourg, Jacques Brel, Daniel Balavoine oder Charles Aznavour hörte. Die Größen des Chanson mussten aber irgendwann dem Franco-Pop der 80er weichen. Dann gab es Tanzmusik von Musikern, deren Name ich noch nie gehört habe (und deren Namen ich mir auch alle nicht merken konnte). Alle Franzosen lagen sich in den Armen, sangen ihre Lieder und tanzten dazu. Wunderbar, aber ungewohnt für mich als Deutschen. Ich kann mir nicht vorstellen, mich mit anderen Deutschen zu treffen und deutsche Musik zu hören. Und ich bin mir sicher, dass ich mit dieser Meinung auch nicht alleine da stehe. Kann man deutschen Schlager überhaupt mit dem französischen Chanson vergleichen? Ich verstehe die Texte leider nicht , habe aber gelesen, dass sich das Chanson gerne mit einer dicken Priese Ironie und Sarkasmus an alle möglichen Situationen des Lebens heran wagt. Vielleicht ist das das Geheimnis. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ein großer Teil des deutschen Schlagers (oder deutscher Schlager generell) einfach nur schlecht ist. Ein Geschwafel von Liebe und Sehnsucht in seiner seichtesten Form. Gesungen von Toni Marschall, Drafi Deutscher, Roberto Blanco oder Roland Kaiser. Alles Flachpfeiffen. An dieser Stelle muss man vielleicht Personen wie Udo Jürgens oder Reinhard Mey hervorheben. Aber im Ernst, die beiden sind vielleicht die Einzigen, die den Franzosen das Wasser reichen können. Und der neue Indie-Pop ála „Wir sind Helden“ und „Mia“ überzeugt mehr die Jugend als alle anderen. In Frankreich nimmt man die Chansons wohl schon mit der Muttermilch auf und behält sie bei, bis die nächste Generation zu ihren Klängen dahin schmilzt. Bien!


Chansons sind typisch französisch wie das Croissant, das Baguette und den tollen Rotwein aus Bordeaux. Soweit die Klischees. Aber man kann ihnen nicht ausweichen: Früher oder später wird man als Erasmus-Student mit ihnen konfrontiert. Und in meinem Falle muss ich feststellen, dass ich einigen Klischees durchaus entspreche...


Das zeigt sich in vielen Kleinigkeiten. Ich unterstreiche wichtige Passagen in Büchern entweder mit einem Textmarker, oder eben mit einem Bleistift samt Lineal. Ich bin der einzige Mensch im Griechisch-Kurs, der auf letztgenannte Art und Weise arbeitet. Ein anderes Beispiel ist Pünktlichkeit: Falls es etwas später wird, rufe ich an oder schreibe eine SMS. Studenten aus anderen Ländern (vor allem Griechen, Italiener und Spanier) sehen das nicht so eng. Dafür trinke ich als Deutscher noch lange nicht soviel Bier, wie manch einer vermuten würde. Mir fehlen außerdem die blonden Haare und die blauen Augen. Mein Gesicht ist auch nicht eckig. Das hat nämlich ein Mädel aus Paris gedacht, die ihr Land noch nie verlassen hat. Diese und andere Dinge hört man sich dann mit breitem Grinsen an, bevor man die eigenen Ansichten zu einem Land los wird.


Scheibe Nummer 3 an diesem Abend. Boards of Canada mit „Music has the right to children“.

Genau das akustische Gegenteil von dem, was ich letztes Wochenende mit Teresa gemacht habe. Wir sind irgendwann im Laufe des Abends an der Polytechniou-University gelandet und haben dort unzählige Punks mit Irokesenschnitt zu House-Musik abgehen sehen. Als es uns zu bunt wurde, sind wir in den ersten Stock gegangen und haben ein paar Hocker und Tische über den Marmorboden geschliffen, bis dieser erbärmlich krächzte. Es war, als würden wir einen Dialog über die Hocker führen. Answers and questions. Questions follow answers and vice-versa. Einige von den Rockern kamen kurz hoch und zogen sich unserem Minimal-Noise rein. Dann verschwanden sie wieder und verpassten unsere Percussion-Einlage, die durch das ganze Gebäude schallte. Es schien keinen zu stören, dass wir knapp 20 Minuten lang infernalischen Krach machten. Aber wen sollte das auch kümmern? Die Punker zelebrierten in der Aula ihren eigenen Terror, ein Offizieller oder ein Security-Mann war nirgendwo zu sehen. Und die Polizei darf, nachdem irgendwann ein Student erschossen wurde, nicht auf das Uni-Gelände. Hier und überall in Athen. Anarchie für alle. Zumindest für diejenigen, die sie haben wollen.


Letzten Freitag muss mir, nach meinem kurzen Einkauf im OK-Market, ebenfalls ein anarchischer, ja vielleicht sogar kommunistischer Gedanke gekommen sein. Eine flüchtige Idee von einer Welt, in der man ohne Bargeld überleben kann. Aber es war wohl eher Gedankenlosigkeit, die mich meine Brieftasche in diesem Laden vergessen ließ. Mea culpa.

Nachdem ich merkte, dass mir etwas fehlt, bin ich sofort wieder zurück und habe alles abgesucht, keine fünf Minuten danach, jedoch vergeblich. Und so kann ich nun alle Studentenausweise neu beantragen (was jedoch weniger kompliziert ist als zunächst vermutet) und mir eine neue Bankkarte besorgen (was leider viel umständlicher ist als erwartet). Glücklicherweise waren die ganz wichtigen Dinge wie mein Ausweis, die Kreditkarte und mein Versicherungsausweis in meinem Zimmer. Der Dieb kann sich nun über 35 Euro und meine 5 Pfund Banknote freuen.

Meine Mitbewohner boten mir sofort etwas finanzielle Unterstützung an, die ich jedoch, dank meiner Eltern daheim, nicht annehmen musste. Jirka (einer der beiden Tschechen) wollte mir jedoch unbedingt helfen und bot mir einen Schnaps an, den wir dann auch beide zusammen getrunken haben. So sah die ganze Sache dann auch wieder etwas lockerer aus. Und dennoch: Brieftasche verlieren? Einmal und nie wieder. Die vielen fliegenden Händler in Athen wird es freuen, denn bei einem von ihnen werde ich mir bald ein neues Portemonnaie kaufen.


Ich habe vor wenigen Tagen auch anderweitig etwas Geld ausgegeben, und zwar bei einer Umbuchung meines Rückfluges nach Athen im Januar. Ich werde nicht, wie zunächst geplant, am 02. Januar zurückkehren, sondern erst am 12. Das gibt mir die Möglichkeit, einige von Euch länger oder überhaupt erst zu sehen. Außerdem kann ich so den Geburtstag meines Vaters mit feiern und evtl. ein paar Euro im Edwards verdienen, bevor es wieder nach Athen geht. Neun Tage Deutschland scheint mir im Nachhinein doch zu wenig, und so habe ich nun neunzehn daraus gemacht. Wenn es Dich freut, das zu lesen, dann freut es mich auch. Ich gebe zu, dass ich einige Menschen daheim sehr vermisse und mir manchmal wünsche, sie wären hier. Dann würde ich ihnen diese große Stadt zeigen, die einem Kurzurlauber wie ein Tollhaus vorkommen muss.

Vielleicht entschließt sich der eine oder andere zu einem Besuch. Er (oder sie) ist herzlich willkommen. Meine Mitbewohner werden hier in den nächsten Monaten ebenfalls Freunde und Bekannte beherbergen. Hier, dass ist Griechenland. Hier, dass ist Athen. Denkt drüber nach.



Das Video der Woche hat mit Athen nichts zu tun. Es ist der Clip zu einem Lied, das ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal hörte und dessen eigenwillige Stimmung mich nach wie vor fesselt. Eine Melange aus Laszivität, Kitsch und Dunkelheit. Dazu ein treibender, grooviger Beat, den ich mittlerweile schon so häufig nach gespielt habe, dass meine Oberschenkel weich massiert sind. Der Text ist schrecklich flach, die Stimme hingegen toll. Einer meiner drei Lieblingssänger (Maynard James Keenan) steckt hinter dem Projekt „Puscifer“, welches Mitte Oktober sein erstes Album raus gebracht hat. Das Stück kann, wird und will nicht jedem gefallen. Für mich ist und bleibt es ein hartnäckiger Ohrwurm, den ich wohl so schnell nicht mehr loswerde.



Bye bye Benjamin.

Montag, 5. November 2007

xYz

Nach einem sehr relaxten Tag habe ich mich wieder an den altbekannten Ort begeben, eine Playlist zusammen gestellt und „Open Office“ gestartet. Von draußen höre ich die Autos und den Regen, der sachte an mein Fenster prasselt. Aus meinem Notebook lassen „Telefon Tel Aviv“ wiederum ein leises Clics and Cuts-Gewitter auf mich regnen. Hier, in diesem Zimmer.


Meine vier Wände sind nun, nach einer kleinen Aktion, freundlicher und ansehnlicher gestaltet. Zum einen durch ein schmuckes Foto von der Akropolis, zum anderen durch ein riesiges DIN A0 Poster, dass ich auf der Straße fand. Es ist der Plan einer Brücke, die irgendein griechischer Architekt vor nicht allzu langer Zeit entwarf. Ich habe das Ungetüm an meine Wand geklebt und es mit Buntstiften und meinem Füller angemalt bzw. beschrieben. Nach und nach richte ich mich hier ein, bedecke die großen, weißen Wandflächen mit bekanntem und gemochtem und mache somit dieses Zimmer zu meinem eigenen. So klebt z.B. auch das Foto von „Vatta“ an meinem Schreibtisch. Das tolle, wo er die Zähne fletscht, als wolle man ihm seines frisch gefangenen Fisches berauben. Postkarten aus der Bretagne und dem schönen Rothenstein hängen an der Pinnwand, klatschende Hände aus Andalusien und der engelsgleiche Sigur Ros-Fötus. Last but not least hängt auch mein Stundenplan an der Wand. Er sagt mir, dass mein Semester 17 SWS hat und ich jeden Morgen entspannt angehen kann, fängt doch die früheste Vorlesung um 11h an.


Nichts desto trotz muss ich etwas früher aufstehen, da mich die Fahrt zur Uni in der Regel 45 Minuten kostet. Der 608er Bus ist dann meist gerappelt voll mit Rentnern und Studenten, die müde drein blicken und am liebsten wieder zurück ins Bett wollen. An der Station „Akadimias“ leert sich der Bus, und ich schnappe mir einen Sitzplatz. Mit gefühlten 5 KM/h bewegen wir uns in den östlichen Teil Athens, an den Campus im Stadtteil „Zografou“. Stop and go. Stop, and go. Wer seinen Geduldsfaden trainieren möchte, ist in Athen genau richtig. Die alltägliche Fahrt wird sehr schnell langweilig, wenn man kein Buch oder etwas Musik zur Hand hat.
Besonders zur Mittagszeit ist die Innenstadt so dermaßen dicht, dass die Busfahrer kurzerhand alle Türen öffnen und die Leute auf die Gehwege strömen. Dann geht gar nichts mehr.

Der Campus in Zografou liegt auf einer kleinen Anhöhe, und die „School of Philosophy“ hat 9 Stockwerke. Von hier oben hat man einen schönen Ausblick auf die Stadt, bis hin zum Hafen in Piräus. Wenn man jedoch den Blick von den Häusern weg lenkt und sich die Luft anschaut, dann erkennt man die schweflig-gelbe Smogwolke über der Stadt. Dann glaubt man auch, dass die Akropolis erst in den letzten 100 Jahren in diesen schlechten Zustand gekommen ist. Und man weiß auch, warum Griechenland in der EU das Schlusslicht im Hinblick auf den Umweltschutz ist...


Sei's drum, ich laufe die Treppen wieder hinunter und gehe in den Hörsaal, wo mich die nächste Wolke erwartet. Es wird im gesamten Gebäude geraucht, und eben auch im Hörsaal. Einige Dozenten haben wohl auch nichts dagegen, wenn sich ihre Studenten während der Vorlesung eine Fluppe anmachen. In Dortmund wäre das alles undenkbar. Die Raucher müssen vor die Tür und können sich dort bei Wind und Wetter den blauen Dunst in die Lungen jagen. Hier ticken die Uhren eben etwas anders.

Das alles ist aber halb so wild, denn es sind nur einige Studenten in den Vorlesungen, die sich vor den 90 Minuten eine Zigarette anzünden. Der Rest unterhält sich mit den anderen, oder blättert in den Büchern. Der Großteil der Leute sind, natürlich, Griechen. Und einige von ihnen können wirklich gut Deutsch sprechen. Die große, schweigende Masse verfolgt den Unterricht mehr oder minder interessiert, macht sich gelegentlich ein paar Notizen und blättert ansonsten gerne in der aktuellen Ausgabe des „Vanity Fair“ oder „Cosmopolitan“. Der Dozent redet daher oft mit angezogener Handbremse. Das ist zumindest mein Eindruck als Muttersprachler. Und ich mache mir nichts vor: Dieses Semester wird nicht sehr fordernd, denn die Seminare und Vorlesungen hier dienen in erster Linie den Griechen. Sie sollen mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen und sich an ihren Klang, ihre Worte und ihre Grammatik gewöhnen. Die verlangten Leistungen (Klausur, Hausarbeit, Referat) sind natürlich ein Test, den ich mitmachen muss und werde. Im Grunde genommen könnte sich aber jeder von den Erasmus-Leuten zumindest die Vorlesungen schenken, da alle wichtigen Infos in den Büchern sind. Nicht gefordert werden heißt aber nicht automatisch, dass man nichts Neues lernt.

Abgesehen davon streuen die Dozenten hin und wieder interessante und amüsante Anekdoten ein, die den Besuch der Vorlesungen lohnenswert machen. Und darüber hinaus ist es interessant zu sehen, welche Probleme anderssprachige Studenten mit dem Deutschen haben. Diejenigen, deren Deutsch gut ist, haben z.B. noch Probleme mit der Betonung. Von daher drehen sich einige von ihnen nach einer Meldung zu uns um, mit einem fragenden Blick in den Augen. Dann schaut auch der Dozent zu uns herüber und vergewissert sich, ob das eine oder andere Wort richtig ausgesprochen wurde. Die Dozenten selbst haben für eine längere Zeit in Deutschland gelebt und studiert und sprechen somit sehr gut Deutsch, wenn gleich sie natürlich ihren griechischen Akzent nicht verbergen können. Ich hoffe außerdem, innerhalb der Veranstaltungen einen griechischen Tandem-Partner zu finden. Dazu muss ich jedoch erst viel besser Griechisch können. An den Dozenten im Sprachkurs soll das nicht scheitern...


Der Griechisch-Kurs findet jeden Dienstag, Mittwoch und Freitag in der Zeit zwischen 15 bis 18h statt. 3 mal 3 Stunden Griechisch, mit kleinen Hausaufgaben. Das Unterrichts-Tempo ist wirklich rasant, und ich kenne einige Erasmus-Leute, die sich ernsthaft überlegen, nicht schon jetzt den Kurs zu schmeißen. Wir sind eine bunte Truppe mit Leuten aus Spanien, Litauen, Tschechien, Holland, Italien, Frankreich, der Türkei und Deutschland. Letzte Woche fingen wir mit dem griechischen Alphabet an, welches bis kommenden Mittwoch sitzen muss. Es folgten kleine Redewendungen wie z.B. „Ich heiße...“ oder „Ich komme aus...“. Während des Unterrichts muss jeder Einzelne mal nach vorne an die Tafel, und bei einer Vorlese-Runde muss jeder mehrmals griechischen Begriffe dechiffrieren und wiedergeben. Ich bin wirklich gespannt, wie gut mein Griechisch nach diesem Kurs ist. Wir werden es erleben...


Nach dem Kurs fahren die meisten von uns in die Mensa nach Exarchia. Dort gibt es noch bis 21h warmes Essen. Auch am Wochenende kann man sich dort den Bauch voll schlagen, und das zweimal am Tag, und völlig kostenlos. Einige von uns kochen mittlerweile gar nicht mehr zu Hause, sondern sie gehen direkt in die Mensa. Das Essen selbst ist nicht der Knaller. Oft ein Schuss zu viel Öl, oft zu lang auf dem Herd (oder zu kurz) und sehr häufig Fleisch. Die alte, kauzige Dame hinter dem Tresen belächelt mich immer, wenn ich einen vegetarischen Teller bestelle (den es so gar nicht gibt). Ich bin allerdings auch nicht der einzige Vegetarier in der großen Erasmus-Gruppe, und so leiden wir gemeinsam in Griechenland. Fleisch-Land. Land der drehenden Souvlaki- und Pita-Spieße. Es ist nicht einfach, aber eben auch nicht unmöglich. Die Menschen können es im ersten Moment nicht verstehen, aber dann geht es doch. Irgendwie. Und selbst dann, wenn ich die Bockwurst aus der Suppe puhlen muss. Es geht.


Dann lieber doch einkaufen. Der Champion-Markt ist nur 10 Minuten von mir entfernt und hat eine große Auswahl an verschiedenem Obst und Gemüse. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich dort hingehe. Es ist der erste Supermarkt, den ich auch wegen seiner Hintergrund Musik besuche. An manchen Tagen läuft der allseits bekannt QVC-Brainwashing Soundtrack. An anderen jedoch lustiger Jazz a la Helge Schneider, und dann wiederum auch japanische Popmusik. Dann stöber ich in den Regalen, packe Nudeln, Schokolade und Äpfel in den Korb und, naja, tanze auch dazu. Innerlich natürlich, und auch nur ein wenig.

Das Grünzeug muss immer abgewogen werden, und wenn keine von den Verkäuferinnen da ist, kommt auch schon mal das Sicherheitspersonal an die Waage. Im besagten Champion-Markt ist es eine kleine, pummelige Frau. Sie trägt eine schwarze Uniform und hat dicke Aufnäher auf ihren Schultern, die sie als Angestellte der Firma „Mega-Security“ ausweisen. Wenn es gerade keinen Ladendieb gibt und die Flaschen in den Regalen auch korrekt aneinander gereiht sind, wiegt sie auch mal meine Paprika und Tomaten. Ein guter Mensch, mit wahrscheinlich einem der langweiligsten Jobs der Welt.

Ich gehe auch zum Champion-Markt, weil die Kassierer dort nicht das Geld auf seine Echtheit überprüfen. Mir wurde, wie anderen Leuten auch, schon mal Falschgeld andreht. Ich weiß nicht mehr, woher die Scheine kamen. Wahrscheinlich habe ich sie in einer Bar bekommen, vielleicht aber auch aus einem Geldautomaten. Die meisten Kiosk-Besitzer (und der Champion-Markt) scheren sich auch nicht darum, ob es sich beim Geld um Original oder Fälschung handelt, und so nehmen sie alles an, was nach einer Euro-Note aussieht. Gut für uns, aber schlecht für denjenigen, der den Schein als nächstes bekommt...


Mit all den Tüten gehe ich dann nach Hause und mache mir was leckeres zurecht. Meine Vermieterin ist ebenfalls Vegetarier und eine, so wie sie sagt, gute Köchin. Ich habe ihr gesagt, dass ein Wok unsere Küche bereichern würde, und da hat mir die gute Frau kurzerhand einfach einen Ikea-Wok gekauft. Jetzt kann ich auch hier meine Asia-Pfanne machen, und das finde ich echt gut.


Was ich wiederum nicht so gut finde, ist der ganze Müll, den die Griechen mit ihrem Verpackungswahn herstellen. Brot wird grundsätzlich 2 mal eingepackt, in Papier und in eine Plastiktüte. Die Sachen auf dem Markt werden auch gerne doppelt und dreifach eingewickelt. Zwar gibt es hier auch Mülltrennung, aber ich habe den Eindruck, dass die meisten immer noch alles in eine Tonne kloppen. An vielen öffentlichen Plätzen stehen nun kleine Häuschen, an denen man seine Flaschen und Dosen abgeben kann. An den Seiten kann man auch noch gebrauchte Batterien und Mobiltelefone (ja) rein werfen. Immerhin.

Die Mülltonnen selbst werden in der Nacht geleert, Sehr häufig in der Zeit zwischen 23-4h morgens. Dann rumpelt es kurz in der Straße. Tagsüber ist bei dem Verkehr auch nicht an einen haltenden Müllwagen zu denken. Der kilometerlange Autokorso dahinter würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die ganze Bandbreite an griechischen Schimpfwörtern benutzen, die dieses Land herzugeben vermag.

- - -

Hallo Athene, letzte Woche habe ich wohl ziemlich schlecht über Dich geredet. Ich habe zwar die Wahrheit gesagt, aber ich weiß, das Du eitel bist und das alles bestimmt gar nicht hören wolltest.

Du hast, wie alle Götter da oben auf dem Olymp, sehr menschliche Züge. Manchmal bist Du zickig, dann wieder wohlwollend. Gelegentlich auch eifersüchtig, rachsüchtig. Später jedoch wieder weise und gütig. Ich will nicht Deinen Zorn auf mich ziehen und mich dafür bedanken, dass Du mir in der letzten Woche wieder schönere Teile Deiner Stadt gezeigt hast und Menschen, die alles andere als verloren sind. So z.B. am letzten Freitag, als ich mit Jusin und Teresa zur Mensa lief. Irgendwann öffnete sich zwischen den vielen Häuserzeilen ein großer Spalt, auf dem wir die beleuchtete Akropolis sehen konnten. Für einen Moment war wir drei wie versteinert. Es gibt sie, diese magischen Augenblicke, und ich ertappe mich immer wieder in ihnen. Ganz gleich, ob es die Aussicht vom Lykavittos-Hügel ist, oder ob es die Opas sind, die mit ihren Rosenkränzen spielen, Kaffee trinken und sich dabei leidenschaftlich unterhalten. Du hast ganze Arbeit geleistet.
Μoυ αρέoεις.

Und dennoch verpasse ich Dir zum Schluss noch einen kleinen Dämpfer, denn ich möchte, dass die Leute daheim einen Eindruck von Deinem Verkehrschaos bekommen...


Mein Blog bietet, von nun an, mit jedem neuen Beitrag einen Link auf mein persönliches „Video der Woche“. Es muss dabei nicht zwangsläufig mit Athen in Verbindung stehen. In dieser Woche ist das jedoch der Fall. Schaut Euch mal an, wie sich ein Rettungswagen durch den dichten Verkehr mogelt. Einerseits lustig, andererseits beängstigend.


Bleibt gesund.

Benjamin.







Sonntag, 28. Oktober 2007

Mitmenschen

Da ich sie in meine letzten Blog-Beiträge nicht habe einbauen können, möchte ich meinen Mitbewohnern nun einen eigenen widmen. Manch einer möchte noch denken, ich verstehe mich nicht mehr mit ihnen und spare sie deshalb aus. Das Gegenteil ist der Fall: Wir verstehen uns nach wie vor gut und verbringen einige Zeit miteinander. Und obwohl die Temperaturen mittlerweile auch in Athen etwas zurück gehen, sitzen wir an manchen Abenden draußen auf dem Balkon und reden, grillen oder trinken ein Glas Wein. Wir sind alle keine Streithähne, spülen immer noch unser Geschirr und lachen nach wie vor über so manche Dinge. Meine Mitbewohner sind dufte Leute, und ich möchte sie Euch hier kurz vorstellen:


  • Louis kommt aus Frankreich, ist 26 Jahre alt (und drei Wochen älter als ich). Er studiert in Athen Kunstgeschichte mit besonderem Schwerpunkt auf die Geschichte der Architektur. Diese Tatsache allein macht ihn mir schon zu einem sympathischen Zeitgenossen, da ich über viele interessante Dinge mit ihm reden kann. Aber er ist auch ein humorvoller Kerl, wenn nicht sogar der Humorvollste in der ganzen WG. Sein Englisch ist brilliant, hat er doch für mehrere Monate in den USA studiert.


  • Despina kommt aus Schweden, ist 24 Jahre alt und studiert Tourismus und Human Geography (BWL / VWL mit einer gehörigen Priese Geografie). Sie ist das Ergebnis einer griechisch-polnischen Koproduktion und spricht insgesamt 4 Sprachen. Wir sitzen des Öfteren in der Küche und unterhalten uns über Gott und die Welt. Dabei erzählen wir uns von den Details unserer Leben und Leiden auf diesem Planeten. Sie ist ein lebenshungriger Mensch mit der Stimme eines kühlen Nordlichts und dem Aussehen einer Amazone. Und obwohl man sie in mancherlei Hinsicht für oberflächlich halten könnte, beweist sie einem schnell, dass dies nicht der Fall ist.


  • Lucia kommt wie ich aus Deutschland. Sie ist mit 22 Jahren das Küken der WG und studiert Physik in einem bilingualen Studiengang (Französisch-Deutsch). Den größten Teil ihres Lebens hat sie in Afrika verbracht. Nach Aufenthalten in Frankreich, Luxemburg und Saarbrücken ist sie nun in Athen gelandet. Sie ist ein fröhliches, zielstrebiges und gut gelauntes Mädel, mit dem ich Abends gerne bei einer Schnitte Brot den Tag Revue passieren lasse.


  • Ondrej kommt aus Tschechien, ist 25 Jahre alt und studiert Architektur. Er ist ein Crack in Sachen 3D-Grafiken und Foto-Bearbeitung und hat mir unglaubliche Bilder gezeigt, die er anhand einfacher Techniken erstellt hat (ich habe ihm über die Schulter geschaut und mir die Kniffe gemerkt). Er ist ein sachlicher Typ mit einer ruhigen Stimme, wirkt aber zu keinem Zeitpunkt unterkühlt, sondern immer interessiert und hilfsbereit. 2-3 mal pro Woche besucht er einen Capoeira-Kurs, und verschafft sich so einen Ausgleich zu seinen Vorlesungen und der Arbeit vor dem PC. Sein Englisch ist ebenfalls sehr gut, da er wie Louis auch für mehrere Monate (in diesem Fall 1,5 Jahre) in den USA studiert hat.


  • George kommt auch aus Tschechien, ist 24 Jahre alt und studiert Civil Engineering (Mischung aus den Fächern Architektur und Maschinenbau). Er ist ein großer, kräftiger Bursche mit sanftmütigen Humor, viel Unternehmungslust und einer großen Leber, die sehr viel Alkohol verträgt. Wir alle nennen ihn George, obwohl er im richtigen Leben Jiri, oder wahlweise auch Jirka heißt. Bei unseren Barbecue-Sessions auf dem Balkon versorgt er uns mit der Grill-Ware, dem passenden Schnaps und der adäquaten Musik (The Doors, REM, Oasis...). Eines seiner Markenzeichen ist lautes Lachen, das auf jeden von uns ansteckend wirkt.


Möglicherweise haben sich alle bisher von ihrer Schokoladen-Seite gezeigt, und mit Sicherheit schlummert in jedem uns ein riesiges Untier, das gar nicht so freundlich ist, wie es einem auf dem Flur erscheint. Die ersten 3 Wochen verliefen jedoch reibungslos. Hoffentlich bleibt es auch so. Mindestens. Na dann, auf gute Nachbarschaft...