Woche Nummer Sieben in der südlichsten Hauptstadt Europas. Ein verranzter und verregneter Dienstag liegt hinter mir, und Eric Clapton gibt mir den Rest. Unplugged.
Aus dem Nachbarzimmer höre ich Louis und seine neue Flamme Sara herumtollen. Ansonsten ist es ruhig, besonders heute Abend. Mein französischer Mitbewohner hat die schlimmen Nachrichten noch nicht gehört, die die Stimmung in der WG drückt...
Despinas Vater ist heute in Schweden gestorben. Die Arme läuft den ganzen Tag durch die Wohnung, weiß weder ein noch aus. Jeder von uns hat einen Klos im Hals und möchte ihr gerne helfen, aber keiner weiß wie. Der Tod ihres Vaters ist für sie der zweite Schicksalsschlag innerhalb einer Woche. Vor wenigen Tagen hatte ihr Freund einen Autounfall, den er schwer verletzt überlebte. Seine beiden Cousins hingegen sind dabei ums Leben gekommen. Bisher hat ihm noch niemand von dieser Tragödie erzählt. Arme Despina. Erst gestern haben wir uns darüber unterhalten, wie wir schlechte Nachrichten aufnehmen und damit umgehen. Wir waren uns einig, dass wir in den ersten Tagen allein sein möchten, bevor wir mit jemandem darüber reden. Und heute geschieht solch etwas schlimmes. In den letzten Wochen war ich des öfteren das offene Ohr, an das sie sich wandte, wenn irgendwo der Schuh drückte. In den nächsten Tagen werde ich mich mit Fragen nach ihrem Wohlbefinden zurückhalten. Vielleicht hilft ihr dann eine Umarmung mehr als aufmunternde Worte. Ich weiß es nicht.
Eine kurze Pause. Neben mir liegt ein kleiner Zettel mit Notizen, die ich während der letzten Tage gemacht habe. Es fällt mir gerade nur schwer, davon zu erzählen. Anstelle dessen gibt es nun diesen Zeilen. Stream of consciousness. Eric Clapton singt „Tears in heaven“, draußen erklingt eine Polizeisirene, es ist 23:12h. Ich wage mich an den ersten Punkt meines Zettels:
Dort habe ich vermerkt, dass ich über meine WG schreiben möchte. Vielmehr über das Glück, in diesem internationalen Kessel Buntes gelandet zu sein. Wir verstehen uns nach wie vor gut, gehen gelegentlich zusammen aus und achten immer noch darauf, dass das Geschirr nach der Benutzung gespült wird. Jeder gibt sich Mühe, dieses tolle Gemeinschaftsgefühl aufrecht zu erhalten. Man lacht, lebt und, wie heute erfahren, leidet zusammen. Das finde ich wunderbar.
Ich kenne andere Wohngemeinschaften, die von solch einer Atmosphäre nur träumen können. Eine Bekannte zum Beispiel muss sich ihr Zimmer mit einem streng-katholischen Mädel aus Rumänien teilen. Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich an einer Hand abzählen, und so wird die tägliche Fahrt nach Hause zum gedanklichen Spießrutenlauf. Da hilft es auch nicht, wenn ihre zweite Mitbewohnerin aus Italien sich oft an ihre Seite stellt. Sie ist bei weitem nicht die Einzige, die das eine oder andere Problem mit ihren Mitbewohnern hat. Von daher bin sehr froh darüber, in dieser WG zu leben. Bei sechs verschiedenen Menschen aus vier verschiedenen Ländern hätte es durchaus auch eine explosive Mischung geben können. Wir Ihr hier jedoch lesen könnt, kam alles ganz anders.
Plattenwechsel. Tori Amos – Scarlet's walk.
Ich erzähle Euch nun ein wenig von der Aufmüpfigkeit des griechischen Volkes. Radikale Reformen sind in diesem Land nicht einfach durchzusetzen. Und wenn es die Regierung oder das Parlament dennoch versucht, dann gibt es Demonstrationen und Streiks. Letzten Monat habe ich allein vier Demonstrationen und einen Streik miterlebt. Letzte Woche protestierte der Dachverband der Menschen mit Behinderungen gegen Einsparungen, und stellte seinen Stand kurzerhand auf eine der Hauptverkehrsadern dieser Stadt. Busse mussten umgeleitet werden, die blaue U-Bahnlinie Richtung Flughafen war hoffnungslos überlaufen.
Die Polizei ist allgegenwärtig, mit Maschinengewehren und auch mit Handgranaten. Die Schlagstöcke sind obligatorisch. Dann läuft mir jedes Mal ein kleiner Schauer über den Rücken, wenn ich sie irgendwo stehen sehe. Der Staat möchte Stärke zeigen. Und die Studenten zeigen, worin sie ihre ideologische Kräfte ziehen. Es ist unübersehbar. Gleich beim Betreten der Uni sieht man sie, die roten Plakate. Auf einem fegt Lenin mit einem dicken Besen die Bonzen vom Globus, ein anderes zeigt ihn in erhabener Rednerpose. 1917: Das Jahr der russischen Revolution. Und eben diese ist wohl auch historisches Vorbild für viele griechische Studenten. Was vor neunzig Jahren geklappt hat, kann wohl heute auch funktionieren. Wenn es denn funktioniert hätte. Der Kommunismus sieht auf dem Papier immer gut aus, aber in der Wirklichkeit? Wenn meine tschechischen Mitbewohner diese Plakate mit den unzähligen Hämmern und Sicheln sehen, dann können sie nur den Kopf schütteln. Sie haben diese Zeit nicht bewusst miterlebt, aber von ihren Eltern genug Geschichten gehört. Von Diktatur, Mangelwirtschaft, Unterdrückung etc...
Nichts desto trotz sind die Athener Universitäten fest in der Hand der studentischen Linken. Die Fassade der AUEB (Athens University of Economy and Business) könnte man auf dem ersten Blick für einen kommunistischen Jugendhort halten. Die Zäune sind von Transparenten bedeckt, auch die Wände sind mit Bannern überzogen. Im Gebäude selber stehen dutzende Stellwände mit selbst gebastelten Plakaten und Flyern. Man geht hier couragiert zu Werke und sieht sich wohl als Kern einer revolutionären Bewegung. Ich bewundere das politische Engagement der Studenten hier in Athen. Studiengebühren waren hier für kurze Zeit ebenfalls geplant, aber nach einer Massendemo wurde diese Idee sofort wieder auf Eis gelegt. Andererseits sind mir ihre Ideen und Vorstellungen zu radikal und vor allem geschichtlich nicht genug hinterfragt. Ich habe den Eindruck, als sähe man nur die Vorteile des Kommunismus, blendet aber die Nachteile vollkommen aus. Aber das ist nur meine Meinung. - Bald stehen sie sich wieder gegenüber: Die Polizisten zur Rechten, die Studenten zur Linken. Vielleicht noch in dieser Woche.
Tori singt gerade eines meiner Lieblingslieder auf diesem Album: I can't see New York.
Gestern habe ich mir ein paar Balladen von Westernhagen angehört und so auch mal wieder einen deutschen Text mitgesungen. Ich erwähne das hier nur, weil ich letztens in eine französischen WG eingeladen wurde und mehrere Stunden lang ausschließlich französische Musik lief. Mir hat sich eine kleiner Kosmos geöffnet, als ich Stücke von Serge Gainsbourg, Jacques Brel, Daniel Balavoine oder Charles Aznavour hörte. Die Größen des Chanson mussten aber irgendwann dem Franco-Pop der 80er weichen. Dann gab es Tanzmusik von Musikern, deren Name ich noch nie gehört habe (und deren Namen ich mir auch alle nicht merken konnte). Alle Franzosen lagen sich in den Armen, sangen ihre Lieder und tanzten dazu. Wunderbar, aber ungewohnt für mich als Deutschen. Ich kann mir nicht vorstellen, mich mit anderen Deutschen zu treffen und deutsche Musik zu hören. Und ich bin mir sicher, dass ich mit dieser Meinung auch nicht alleine da stehe. Kann man deutschen Schlager überhaupt mit dem französischen Chanson vergleichen? Ich verstehe die Texte leider nicht , habe aber gelesen, dass sich das Chanson gerne mit einer dicken Priese Ironie und Sarkasmus an alle möglichen Situationen des Lebens heran wagt. Vielleicht ist das das Geheimnis. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ein großer Teil des deutschen Schlagers (oder deutscher Schlager generell) einfach nur schlecht ist. Ein Geschwafel von Liebe und Sehnsucht in seiner seichtesten Form. Gesungen von Toni Marschall, Drafi Deutscher, Roberto Blanco oder Roland Kaiser. Alles Flachpfeiffen. An dieser Stelle muss man vielleicht Personen wie Udo Jürgens oder Reinhard Mey hervorheben. Aber im Ernst, die beiden sind vielleicht die Einzigen, die den Franzosen das Wasser reichen können. Und der neue Indie-Pop ála „Wir sind Helden“ und „Mia“ überzeugt mehr die Jugend als alle anderen. In Frankreich nimmt man die Chansons wohl schon mit der Muttermilch auf und behält sie bei, bis die nächste Generation zu ihren Klängen dahin schmilzt. Bien!
Chansons sind typisch französisch wie das Croissant, das Baguette und den tollen Rotwein aus Bordeaux. Soweit die Klischees. Aber man kann ihnen nicht ausweichen: Früher oder später wird man als Erasmus-Student mit ihnen konfrontiert. Und in meinem Falle muss ich feststellen, dass ich einigen Klischees durchaus entspreche...
Das zeigt sich in vielen Kleinigkeiten. Ich unterstreiche wichtige Passagen in Büchern entweder mit einem Textmarker, oder eben mit einem Bleistift samt Lineal. Ich bin der einzige Mensch im Griechisch-Kurs, der auf letztgenannte Art und Weise arbeitet. Ein anderes Beispiel ist Pünktlichkeit: Falls es etwas später wird, rufe ich an oder schreibe eine SMS. Studenten aus anderen Ländern (vor allem Griechen, Italiener und Spanier) sehen das nicht so eng. Dafür trinke ich als Deutscher noch lange nicht soviel Bier, wie manch einer vermuten würde. Mir fehlen außerdem die blonden Haare und die blauen Augen. Mein Gesicht ist auch nicht eckig. Das hat nämlich ein Mädel aus Paris gedacht, die ihr Land noch nie verlassen hat. Diese und andere Dinge hört man sich dann mit breitem Grinsen an, bevor man die eigenen Ansichten zu einem Land los wird.
Scheibe Nummer 3 an diesem Abend. Boards of Canada mit „Music has the right to children“.
Genau das akustische Gegenteil von dem, was ich letztes Wochenende mit Teresa gemacht habe. Wir sind irgendwann im Laufe des Abends an der Polytechniou-University gelandet und haben dort unzählige Punks mit Irokesenschnitt zu House-Musik abgehen sehen. Als es uns zu bunt wurde, sind wir in den ersten Stock gegangen und haben ein paar Hocker und Tische über den Marmorboden geschliffen, bis dieser erbärmlich krächzte. Es war, als würden wir einen Dialog über die Hocker führen. Answers and questions. Questions follow answers and vice-versa. Einige von den Rockern kamen kurz hoch und zogen sich unserem Minimal-Noise rein. Dann verschwanden sie wieder und verpassten unsere Percussion-Einlage, die durch das ganze Gebäude schallte. Es schien keinen zu stören, dass wir knapp 20 Minuten lang infernalischen Krach machten. Aber wen sollte das auch kümmern? Die Punker zelebrierten in der Aula ihren eigenen Terror, ein Offizieller oder ein Security-Mann war nirgendwo zu sehen. Und die Polizei darf, nachdem irgendwann ein Student erschossen wurde, nicht auf das Uni-Gelände. Hier und überall in Athen. Anarchie für alle. Zumindest für diejenigen, die sie haben wollen.
Letzten Freitag muss mir, nach meinem kurzen Einkauf im OK-Market, ebenfalls ein anarchischer, ja vielleicht sogar kommunistischer Gedanke gekommen sein. Eine flüchtige Idee von einer Welt, in der man ohne Bargeld überleben kann. Aber es war wohl eher Gedankenlosigkeit, die mich meine Brieftasche in diesem Laden vergessen ließ. Mea culpa.
Nachdem ich merkte, dass mir etwas fehlt, bin ich sofort wieder zurück und habe alles abgesucht, keine fünf Minuten danach, jedoch vergeblich. Und so kann ich nun alle Studentenausweise neu beantragen (was jedoch weniger kompliziert ist als zunächst vermutet) und mir eine neue Bankkarte besorgen (was leider viel umständlicher ist als erwartet). Glücklicherweise waren die ganz wichtigen Dinge wie mein Ausweis, die Kreditkarte und mein Versicherungsausweis in meinem Zimmer. Der Dieb kann sich nun über 35 Euro und meine 5 Pfund Banknote freuen.
Meine Mitbewohner boten mir sofort etwas finanzielle Unterstützung an, die ich jedoch, dank meiner Eltern daheim, nicht annehmen musste. Jirka (einer der beiden Tschechen) wollte mir jedoch unbedingt helfen und bot mir einen Schnaps an, den wir dann auch beide zusammen getrunken haben. So sah die ganze Sache dann auch wieder etwas lockerer aus. Und dennoch: Brieftasche verlieren? Einmal und nie wieder. Die vielen fliegenden Händler in Athen wird es freuen, denn bei einem von ihnen werde ich mir bald ein neues Portemonnaie kaufen.
Ich habe vor wenigen Tagen auch anderweitig etwas Geld ausgegeben, und zwar bei einer Umbuchung meines Rückfluges nach Athen im Januar. Ich werde nicht, wie zunächst geplant, am 02. Januar zurückkehren, sondern erst am 12. Das gibt mir die Möglichkeit, einige von Euch länger oder überhaupt erst zu sehen. Außerdem kann ich so den Geburtstag meines Vaters mit feiern und evtl. ein paar Euro im Edwards verdienen, bevor es wieder nach Athen geht. Neun Tage Deutschland scheint mir im Nachhinein doch zu wenig, und so habe ich nun neunzehn daraus gemacht. Wenn es Dich freut, das zu lesen, dann freut es mich auch. Ich gebe zu, dass ich einige Menschen daheim sehr vermisse und mir manchmal wünsche, sie wären hier. Dann würde ich ihnen diese große Stadt zeigen, die einem Kurzurlauber wie ein Tollhaus vorkommen muss.
Vielleicht entschließt sich der eine oder andere zu einem Besuch. Er (oder sie) ist herzlich willkommen. Meine Mitbewohner werden hier in den nächsten Monaten ebenfalls Freunde und Bekannte beherbergen. Hier, dass ist Griechenland. Hier, dass ist Athen. Denkt drüber nach.
Das Video der Woche hat mit Athen nichts zu tun. Es ist der Clip zu einem Lied, das ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal hörte und dessen eigenwillige Stimmung mich nach wie vor fesselt. Eine Melange aus Laszivität, Kitsch und Dunkelheit. Dazu ein treibender, grooviger Beat, den ich mittlerweile schon so häufig nach gespielt habe, dass meine Oberschenkel weich massiert sind. Der Text ist schrecklich flach, die Stimme hingegen toll. Einer meiner drei Lieblingssänger (Maynard James Keenan) steckt hinter dem Projekt „Puscifer“, welches Mitte Oktober sein erstes Album raus gebracht hat. Das Stück kann, wird und will nicht jedem gefallen. Für mich ist und bleibt es ein hartnäckiger Ohrwurm, den ich wohl so schnell nicht mehr loswerde.
Bye bye Benjamin.
2 Kommentare:
hei lieber ben,
jetzt komm ich auch endlich mal wieder dazu, deinen feinen blog zu besuchen.
tut mir echt leid, das mit deiner mitbewohnerin. man kommt sich immer so hilflos vor in solchen situationen. aber gut, dass sie sich dir anvertraut...
kennst du eigentlich klaus hoffmann? ich finde, seine älteren werke können den franzosen auf jeden fall das wasser reichen. er hat auch mal eine jacques-brel-platte aufgenommen, passenderweise.
ich finde ihn besser als reinhard mey, der ist mir etwas zu schmalzig ;). ich leih dir mal ein hoffmann-album aus, wenn du zurück bist. magst du sicherlich.
ach ben, lass es dir gut gehen.
ich drück dich...
bis bald
Ben in Athen,
auch wenn es mich immer freut von Dir zu lesen, so freut mich "das" doch besonders.
Gehab Dich wohl.
Kasia
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