Sonntag Abend. Ich liege auf meinem Bett und höre 'The reminder' von Feist. Vor wenigen Stunden war ich zum ersten Mal am Athener Strand und habe dort die Sonne untergehen sehen. Auf einer Liege versank ich im Schaum und Klang der Wellen, die im stetigen Rhythmus auf mich zu kamen und wieder verschwanden. Meine Augen glitten über die unebene Landschaft vor mir, aus der manchmal ein Kopf oder ein Schiff am Horizont hervorragte. Ich fühle mich in diesem (sowie in anderen Momenten) sehr wohl und beschließe, den Weg zur Metro zu Fuß zurück zu legen. 60 Minuten lang laufe ich Richtung Westen und singe Lieder von Elbow, Faith no more und A perfect circle. Könnte es mir heute besser gehen?
Die Woche fing bekanntlich anders an. Ich hatte mein Bett im Hostel und noch kein eigenes Zimmer. Nur eine Liste mit Vermietern, die ihre Wohnungen den Erasmus-Studenten anbieten. Nach einigen Anrufen war klar, dass es schwierig werden würde, eine passable Bleibe zu finden, da die meisten Leute schon Anfang oder Mitte September anreisten und ihre WG's gegründet haben. Vielleicht war ja dennoch irgendwo ein Raum zu vergeben. Um das heraus zu finden, bin ich zu meiner Fakultät in den Stadtteil Zografou gefahren. Wie ich feststellen musste, ähnelt der Campus überhaupt nicht dem Hauptgebäude im Zentrum. Ganz im Gegenteil: Der Bau versprüht eher den Esprit der Ruhr-Uni in Bochum. Ein Betonklotz, umgarnt von Pinien und Ahornbäumen. Im Innern gibt es jedoch weite und luftige Gänge. An den Wänden stehen links-gerichtete Slogans wie „There's just one solution: Revolution“ und Bilder von Che Guevara. Die 'National and Kapostrian University of Athens' gilt als Hochburg der linken Studentenbewegung. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen, da sich im Gebäude nicht allzu viele Menschen tummelten. Semesterstart ist erst nächste Woche.
Meine 'Solution' musste jedoch erst gefunden werden, nämlich eine WG in Athen. Dafür machte einen Flyer und kopierte diesen dutzende Male, um ihn dann an den stark frequentierten Orten dieses Gebäudes aufzuhängen. Im Studi-KZ habe ich ebenfalls eine Anzeige geschaltet, auf die sich zunächst niemand meldete. Am selben Abend lernte ich Giovanni kennen, einen Studenten aus Turin. Wir sahen uns zusammen eine Wohnung im Zentrum an. Das Apartment war sehr schön, hatte aber nur ein Schlafzimmer. Da keiner von uns im Wohnzimmer schlafen wollte, haben wir uns gegen dagegen entschieden und verbrachten den Rest des Abends damit, die Wohnungsliste durch zu telefonieren, um eine eigene WG zu eröffnen. Dies gestaltete sich als sehr schwierig, wir fanden aber dennoch unter ca. 80 Einträgen 3 Wohnungen, die frei waren. Es wurden Treffen für den nächsten Tag arrangiert. Den Rest des Abends verbrachten wir mit einem Bier und dem Champions-League Spiel zwischen Piräus und Bremen. Die Griechen gewannen bekanntlich 1:3. Dementsprechend war auch die Stimmung in Bar.
In der selben Nacht bekam ich noch eine SMS von Moritz, der meine Anzeige im Internet gelesen, und anschließend irgendwo einen Flyer gesehen hat. Es wurde noch ein Mitbewohner gesucht für eine WG in der Gegend um den Victoria-Platz. Ich schrieb eine SMS und bekam am nächsten Morgen einen Anruf von Sissi Panagiotodou, mit der ich mich dann später zur Wohnungsbesichtigung traf. Sie ist die Vermieterin des großen Apartments und bot mir ein Zimmer an, in das ich mich sofort verliebte. Ein kleiner Raum mit ca. 12-14qm, liebevoller Einrichtung und einem Balkon, der sich gewaschen hat.
Bevor ich diesen weiter beschreibe, ist es wichtig zu sagen, dass es sich bei diesem Apartment um eine 6er WG handelt. Jede(r) Einzelne Mitbewohner hat sowohl ein Fenster, als auch einen Zugang zum Balkon, welcher sich wie ein „L“ um das Gebäude schlängelt und somit eine Ebene für alle Bewohner ist. Ein riesiger Ort mit Pflanzen, Markisen, Wäscheleinen und einem Ausblick, der mir manchmal Freudentränen in die Augen treibt. Vom 6. Stock aus (es gibt glücklicherweise zwei Aufzüge) hat man einen fantastischen Ausblick über die Dächer und Lichter der Stadt, deren Hügel und die Akropolis. Sie leuchtet wenige Kilometer weit entfernt, während unter uns der Stadtverkehr seine Bahnen zieht. Ich habe sofort zugesagt, wenn gleich ich meine Mitbewohner genauso wenig kannte wie die zeitliche Entfernung zum Campus.
Am Freitag Morgen zog ich aus dem Hostel in mein Zimmer. Nach und nach trafen die ersten Leute ein. Erst Louis aus Frankreich, dann Ondrej und Jiri aus Tschechien. Irgendwann wachte dann auch Despina aus Schweden auf, und am Abend traf ich dann auch Lucia aus Tübingen. Nachdem ich den Inhalt meiner dicken Tasche endlich in die schicke Schrankwand verfrachtet, und meine erste Monatsrate samt Kaution an Sissi gezahlt habe, unterhielt ich mich mit den Menschen, mit denen ich im nächsten halben Jahr zusammen leben werde. Zunächst erwartungsgemäß recht oberflächlich, am Abend jedoch noch intensiver. Jeder kaufte eine Kleinigkeit, und so saßen wir am Abend zusammen auf unserem riesigen Balkon und tranken Wein und Ouzo. Dazu gab es Trauben, Brot und Fetakäse. Am darauf folgenden Tag kauften wir zusammen die Sachen ein, die wir alle brauchen und nutzen. Die Organisation von Dingen wie Einkäufe, Hygiene und Ordnung klappt einwandfrei, da wir diese Punkte sofort geregelt haben. Im Grunde genommen gab es nicht viel zu regeln, da keiner von uns sein eigenes Olivenöl und Toilettenpapier kaufen, und niemand riesige Berge mit benutztem Geschirr will. Wir sind im Schnitt über 24 Jahre alt, haben unsere Erfahrungen in WG's und konkrete Vorstellungen, wie das Zusammenleben aussehen soll. Und diese Vorstellungen sind in vielerlei Hinsicht deckungsgleich. Darüber bin ich sehr froh.
Ich freue mich auch sehr darüber, dass die ersten Tage sehr harmonisch abgelaufen sind. Ich habe bei keinem das Gefühl, dass er (oder sie) sich verstellt, um einigermaßen in das Gefüge zu passen. Darüber hinaus ist niemand dabei, dessen Persönlichkeit bedrohlich stark aneckt. Jeder von uns ist verschieden, aber ich habe den Eindruck, dass wir durchaus homogen sind und eine tolle Zeit zusammen haben werden. Dies ist mein gegenwärtiger Eindruck, und ich bin mit Sicherheit noch etwas befangen von dem Urlaubs-Flair, den dieser Trip bisher auf mich ausübt. Aber es gibt Momente, in denen ich merke, dass es alles andere als verkehrt ist. Zum Beispiel wenn Louis Abends auf dem Balkon sitzt, seine Opa-Pfeife raucht und Vintage-Games auf dem Laptop spielt. Ich geselle mich dazu und unterhalte mich mit ihm. Wir zusammen ein paar Songs vom Forrest Gump Soundtrack oder französischen Hip-Hop. Dann hopsen wir wie toll herum und Ondrej kommt aus seinem Zimmer, macht ein paar Fotos. Wir sehen uns diese zusammen an und lachen. Despina kommt hinzu und fragt, warum hier so ein Gelächter ist. Und schon sind wir zu viert, sitzen wieder beisammen und unterhalten uns über Gott und die Welt. Das ist nur ein Beispiel von vielen, dass ich in den letzten Tagen hier erlebt habe. Jeder hier ist sehr freundlich, aufgeschlossen, hilfsbereit, interessiert und humorvoll. Wir unterhalten uns auf Englisch. Ondrej und Jiri reden untereinander tschechisch, genauso wie Lucia und ich uns auf Deutsch unterhalten. Betritt ein anderer den Raum, schalten wir sofort wieder auf Englisch um. So ist es gut, und so soll es sein.
Ich könnte noch viel mehr über meine 'Flat-mates' schreiben, ihre Pläne hier in Athen und deren Interessen. Das werde ich mit Sicherheit in einem der folgenden Blog-Einträge machen. Nun möchte ich aber gerne noch von andere Dinge berichten.
Zum Beispiel über die kleine Rundfahrt mit Sissi, meiner Vermieterin. Sie hat einen Roller und nahm mich, für einen Trip durch die Stadt, mit auf diesem rollenden Ding. Zunächst war ich etwas skeptisch, da das gute Stück schon verdammt alt aussieht: Der Schaumstoff am vorderen Ende des Sitzes ist zu großen Teilen verschwunden. Ein Teil der Frontabdeckung ist ebenfalls nicht mehr da. Und last but not least hat sie keinen Helm für ihre Beifahrer.. Aber in Athen gibt es mehr Rollerfahrer ohne Helm als mit, und nachdem sie mir sagte, dass sie schon seit 22 Jahren Roller fährt, habe ich mich endgültig überzeugen lassen. Eine gute Entscheidung, denn zusammen sind wir eine Hauptverkehrsader hinunter gerast, geradewegs auf die Akropolis zu. Vorbei an Museen, Plätzen, Wiesen und Läden. Vorbei an Bussen und Autos. Vorbei an der Polizei und an Außenspiegeln, die manchmal nur wenige Zentimeter an meinen Knien vorbei sausten. Der Fahrtwind, die Sonnenstrahlen und Sissis Infos zu einzelnen Gebäuden und Orten machten diese Reise zu einem kleinen Abenteuer. Eine tolle Mischung, die süchtig machen kann. Wenn der Verkehr in Athen nicht so abgrundtief dicht und kompliziert wäre, würde ich mir von Zeit zur Zeit auch einen Roller ausleihen. Vielleicht mache ich das auf einer der Inseln, die ich noch besuchen werde. Aber nicht in dieser Stadt. Die Signalfarben rot, gelb und grün verkommen manchmal zu einer Art Diskotheken-Beleuchtung. Motorräder schneiden Autos, Autos schneiden Motorräder. Fußgänger huschen zwischen den Blechen hin- und her, während Zebrastreifen und andere Markierungen schon seit Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.
Auf den Bürgersteigen tummeln sich unzählige herrenlose Hunde. Sie gehören zum Stadtbild wie die Akropolis, die mobilen Souvlaki-Stände oder die fliegenden Händler aus Indien. Sie verkaufen Sonnenbrillen, Taschentücher und blinkend-funkelnde Christus-Kreuze. Am Syntagma-Platz tummeln sich Pärchen und Hippies, Menschen mit Laptops (kostenloses W-LAN) und manchmal auch Politiker. Am Omonia-Platz, nur wenige hundert Meter nord-westlich, werden Porno-DVD's auf offener Straße verkauft. Die glasigen Augen von verschlissenen Gestalten suchen Blickkontakt zu Leuten, die ihnen eine Zigarette oder Geld geben können. Athen ist charmant und brutal, steril und dreckig, westlich und orientalisch, arm und reich, jung und alt. Gegensätzlich, aber kompatibel. Mir scheint, als geht alles in dieser Stadt. Alles.
Es gibt in jedem Fall viel zu entdecken. Sei es alleine, sei es mit meinen Mitbewohnern, oder mit den anderen Erasmus-Leuten. Die meisten von ihnen studieren Jura, und sie kommen aus Deutschland. Bei dem ersten Erasmus-Treffen im Stadtteil Exarchia kamen Italiener, Polen, Serben, Bulgaren, Holländer, Franzosen, Österreicher, Schweizer und eben Deutsche. Insgesamt waren es an die 40 Menschen, die sich am vorigen Donnerstag zum ersten Mal trafen und redeten, tranken, und später auch tanzten. Die Telefonnummern sind ausgetauscht, die ersten Pläne geschmiedet. Es gibt auf jeden Fall Studenten, die ich gerne nochmal wieder sehen möchte. Nächsten Donnerstag gibt Treffen Nummer 2. Ich werde hingehen.
Und was gibt es nun noch mehr zu erzählen. Eigentlich viel mehr, wie zum Beispiel von meiner Bekanntschaft mit Philipp. Er hat mich heute erst auf die Idee gebracht, zum Strand zu fahren. Oder von Julia und Johanna, welche auch in Dortmund studieren, die ich aber hier erst kennen lerne. Oder von lustigen Markennamen. Es gibt ein Eis namens 'Scandal!', eine Modemarke namens 'Paranoia-Free Wear' oder ein Mundwasser mit dem Namen 'Scherzo'.
Vorerst soll dies hier reichen. Morgen gehe ich zum Syntagma-Platz und poste von dort aus diese Zeilen. Momentan haben wir noch keinen Internet-Anschluss. Gleich gehe ich nochmal auf den sagenhaften Balkon, um einen Blick auf diese schöne Stadt zu werfen. Und zu schwelgen.
Kάλήvύχτά'! Ben
To all english readers:
I am very pleased to hear that some of the people I met in Athens are interested in my weblog. I really appreciate your interest and will summarize the experiences I just explained to my german readers. I hope you understand this part of my blog will turn out to be a short note, as Athens and the particularities making it a wonderful place are known to you and don't need to be explained as detailed as for the 'Krauts'. ;-)
I'm very happy to tell everyone I found a nice flat near Victoria square. Five other students (Despina, Lucia, Jiri, Ondrej, Louis) and me share this apartment. We spent a lot of time on our big balcony which offers a great view on Athens (6th floor). I really got the impression that this flat-sharing community is quite homogenic as we share a lot of opinions on topics like e.g. how to manage the household. Beside this, we have fun with chatting and eating together. Everyone is interested in interacting and getting in touch with each other, so I'm optimistic for the weeks and months to come.
Today, me and my german mate Philipp went to the beach near Glyfada. I can really recommend the bar called 'Ble' near Zofirou station. The prices are pretty tough (business as usual), but the DJ played relaxing tunes that fitted great to the sunset. The beach itself is not as dirty as on many other sites, so give it a try on a beautiful evening.
That's all for the moment. I'm looking forward to see you all on Thursday at the Ostriabar in Exarchia.
So long. Ben
P.S: Hey Louis, wanna have a ride on Sissi's motorbike, too? I can arrange it for you. 20 EURO! ;-)
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