Donnerstag, 22. November 2007

The downward spiral

Chris Isaak und sein „Wicked game“ eröffnen den musikalischen Reigen heute Abend. Es folgen Lou Reed, Primal Scream und die Cranberries. In der Küche sitzen alle meine Mitbewohner und trinken Glühwein. Wir hatten ein kleines Barbecue und redeten über Gott und die Welt, aber jetzt habe ich mich abgeseilt und auf mein Bett gesetzt. So wie jede Woche, so wie jeden Tag.


Kurz zuvor habe ich noch mit Despina gesprochen. Ihr geht es zwar etwas besser als letzte Woche, aber die Sache ist natürlich noch lange nicht ausgestanden. Sie erzählt mir viel von ihren Gedanken und Träumen, die wir dann manchmal auseinander klabüsern. Die merkwürdigste Geschichte war jedoch, dass sie und ihre Geschwister beim Tod ihres Vaters allesamt zur gleichen Zeit aufgewacht sind. Mitten in der Nacht rissen drei Menschen ihre Augen auf und blickten hinaus auf den Sternenhimmel. Irgendwie haben sie gemerkt, dass etwas geschehen ist...

Nächste Woche fliegt sie für die Beerdigung und alles andere nach Stockholm. Es graut ihr jetzt schon vor diesen Tagen in der Heimat. Sie wird die Familie sehen und versuchen, alles zu erledigen, was sie sich vor die Brust gesetzt hat. Hier in Athen hat sie eine Bekannte, die ihre Eltern vor einigen Jahren verloren hat. Durch sie kann sie mehr Kraft schöpfen als durch Gespräche mit uns.

Geteiltes und gelebtes Leid ist halbes Leid.



Die letzte Woche war eine sehr kraftraubende Woche für mich. Es lag nicht daran, dass ich so viel für die Uni machen musste, sondern eher daran, dass ich selbst kraftlos war. Und vielleicht auch immer noch bin. Ich habe mich in meinem Zimmer verschanzt, Musik gehört und Schach gegen meinen Computer gespielt. Keine Lust auf nichts und niemanden. Ich habe bewusst den Schlaf gesucht und ihn auch gefunden. Es ist unglaublich, wie müde mich diese Stadt macht. In der Regel reichen mir sieben bis acht Stunden, hier in Athen müssen es mindestens neun sein. Nach der Uni komme ich nach Hause und lege mich ins Bett, für mindestens eine Stunde. In der Nacht kommen dann nochmal acht bis neun Stunden hinzu. Dann wache ich auf und fühle mich so windig, dass ich mich gleich wieder hinlegen könnte. Acht Wochen Athen haben mich schon sehr in Mitleidenschaft gezogen. Von daher habe ich beschlossen, mindestens einen Tag in der Woche aus der Stadt hinaus zu fahren. Am kommenden Wochenende werde ich wahrscheinlich einen Ort am Meer besuchen, an dem ich dann hoffentlich meine Akkus wieder aufladen kann. So kann es jedenfalls nicht weitergehen...


Meinen Mitbewohnern wurde es irgendwann zu bunt, und sie haben mich mehr oder minder in die Küche gezerrt. Wir hatten das Wochenende Besuch von einem tschechischen Paar, und Samstag wurde in der Küche so richtig auf die Kacke gehauen. Ich saß an meinem Schreibtisch und habe irgendeinen Dreck im Internet angeklickt, als plötzlich Louis bei mir in der Tür stand und mich „ultimativ“ aufforderte, der Gesellschaft beizuwohnen. Wie sich herausstellte, war das die beste Entscheidung des Abends. Nach weniger als zehn Minuten hatte ich drei Pinnchen mit tschechischem Rum intus. Jirka war Koch, DJ, Barkeeper und Entertainer in einer Person. Er hat sogar extra vegetarisch für mich gekocht, damit ich auch mal aus meinem Zimmer komme. Ich war schwer beeindruckt und habe mich in das Getümmel gestürzt. Wir sangen tschechische Schlager und fluchten wild herum, bis wir irgendwann die Stühle beiseite räumten um zu tanzen. Die Stunden zogen ins Land und ich fühlte mich nach einer kleinen Ewigkeit wieder etwas wohler in meiner Haut. Die Sonne schickte schon ihre ersten Strahlen durch das dichte Wolkenkleid, als ich ziemlich angeschlagen in mein Bett fiel. Ein tiefer Schlaf umfing mich, welcher über acht Stunden andauerte. Es gewitterte zunächst, aber ich schnürte nach dem Frühstück meine Schuhe und zog eine Regenjacke an, um zum Tempel des Zeus zu gehen, ganz in der Nähe der Akropolis. Die Wolken lösten sich auf, und ein fahles Licht umhüllte die massiven Säulen. Um mich herum sausten Japaner, Spanier und Briten, als ich meinen Kunstführer aufschlug. Als ich dann las, dass dieser Tempel unter der Tyrannis der Peisistratiden angefangen wurde, fühlte ich wie noch nicht zuvor, dass ich mich in der griechischen Hauptstadt befinde. Im vorletzten Semester besuchte ich ein Seminar zum Thema „Athenische Demokratie“, und in der Hausarbeit schrieb ich auch über den Tyrannen Peisistratos und seine beiden Söhne, welche vor über 2500 Jahren die Macht inne hatten.

Für einen Moment fühlte ich mich präsent wie schon lange nicht mehr. Das Wissen und der Ort durchströmten mich, so dass ich für einen Augenblick Eins mit ihm wurde. Fast wie letztes Jahr in Rom, als ich durch die alten Stätten lief und mir die Bauten, Statuen und Gemälde ansah, welche ich zuvor nur auf Dias betrachten konnte. In diesem Momenten lernt man die Zeit zu schätzen, die man an einem besonderen Ort verbringt. Die alltägliche Selbstverständlichkeit löst sich auf. Ja, ich bin in Athen, ich studiere hier fast ein halbes Jahr. Ja, ich habe ein halbes Jahr Zeit, um mir alles anzusehen. Bullshit, ich habe mir bis dato kaum etwas angesehen. Es ist verführerisch zu sagen, dass man genug Zeit hat, sich alles wichtige anzusehen. Man hat die Zeit, aber man macht es dann doch nicht. Zumindest habe ich das bisher so gemacht. Das Wetter wiederum lädt einen gerade jetzt zu einem Museumsbesuch ein. Also, worauf warten sie noch Herr Mohren?!


Am selben Abend habe ich noch meinen Lieblingsort besucht. Es ist eine alte Ruine kurz unterhalb der Akropolis, von welcher aus man fast die ganze Stadt sehen kann. Sie liegt einem sprichwörtlich zu Füßen. Ein Teppich von weiß-grauen Häusern, der sich die Hügel hinaufwälzt und kurz vor dem Meer seine Fransen in die Gischt legt. Hier versammeln sich dann die Touristen, die Einheimischen, die Einsamen und die Verliebten. Sie küssen sich vor dieser Kulisse die Münder wund, und sie haben sich dafür den vielleicht schönsten Ort ausgesucht. Besonders an diesem Abend, als die Wolken und die untergehende Sonne über Piräus dem Himmel ein einzigartiges Farbenkleid auftrugen. Unfassbar schön. Sollte es in unserer WG endlich Internet geben, so werde ich einige Bilder hochladen. So etwas muss man gesehen haben...


Wie ihr dem letzten Satz entnehmen könnt, haben wir noch kein Internet. Unsere Vermieterin Sissi denkt sich jede Woche eine neue Ausrede aus, um unseren Fragen zu entgehen. Seit Wochen warten wir nun auf das Modem. Es liegt bereits beim Vodafone-Händler, welcher angeblich keine Kreditkarte akzeptiert. Bar bezahlt Sissi nicht, aus Prinzip. Vielleicht hat sie das von ihrem amerikanischen Ehemann übernommen. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass wir langsam aber sicher sehr sauer auf sie werden. Nicht nur wegen des Internets. Sissi hat die Angewohnheit, sich in jede Kleinigkeit einzumischen, sei es persönlich oder nicht. Dabei kann sie sehr taktlos, unfreundlich und respektlos sein. Da hilft dann auch ihr breites Grinsen nicht mehr weiter. Uns sind jedoch die Hände gebunden. Wir müssen warten, bis sie die pomadige Dame aus ihrem Haus bequemt und uns endlich das Modem bringt...




Durch meinen Durchhänger hatte (und habe) ich eine recht ereignislose Woche. Es gibt nichts, was ich weiter berichten könnte und wollte. Vielleicht putze ich mir jetzt die Zähne und lege mich schlafen. Aus der Küche höre ich jedoch noch Ondrej und Jirka, und vielleicht trinke ich noch ein Glas Wein mit ihnen.


Alles wird gut.

Benjamin




Das Video der Woche soll Aufschluss über meinen Eskapismus der letzten Woche geben. Es ist unglaublich, was man sich alles ansieht, nur um ein Stück Heimat und Bekanntes um sich zu haben.

Schrecklich.

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