Donnerstag, 13. Dezember 2007

Halbzeit in/m Marathon

Nach vielen Monden höre ich mir mal wieder die „Adore“ von den Smashing Pumpkins an. Neben mir liegt ein leckerer Joghurt, mit Müsli und frischen Orangen. Die Wohnung ist wie ausgestorben. Louis ist wahrscheinlich bei seiner niegelnagelneuen Flamme Kalliope, Ondrej beim Capoeira. Despina ist heute wieder angekommen und trinkt nun ausgiebig Kaffee mit Lucia, irgendwo in Athen.

Ich war bis vor einer Stunde auch noch unterwegs. Heute Nachmittag gab es eine englischsprachige Führung durch das „Archäologische Nationalmusem“, der wichtigsten Sammlung für antike Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke. Anfangs habe ich mich sehr über unseren Leiter gewundert, blieb dieser teilweise nur wenige Sekunden an einem Schaufenster mit kleinsten Utensilien aus der Antike stehen und huschte alsbald zum nächsten. Ich habe mir mehr Details gewünscht. Nach drei Stunden war jedoch klar, dass der gute Mann uns nur einen kleinen Überblick über diese riesige Sammlung von Schmuckstücken, Büsten, Statuen, Fresken, Vasen und Tempelsimse geben konnte. Achttausend Quadratmeter Antike. Ich habe noch nie so viele Büsten gesehen, weder in der Glyptothek in München, noch in den vatikanischen Museen und auch nicht im „British Museum“. Ich werde mir einige Sachen nochmal separat betrachten. Darunter wird bestimmt auch der kleine römische Nachbau einer Statue von Athene sein. Das Original war damals knappe 13 Meter groß. Die Arme, Beine und das Gesicht waren aus Elfenbein, während der Körper mit nicht weniger als 1150kg Gold überzogen wurden. Athen war damals eine sehr wohlhabende Stadt und konnte sich solche Schmuckstücke leisten. Heute würde man sicherlich anders darüber denken...

Ich leiste mir keinen Schmuck, dafür jedoch immer wieder einen Trip ins Umland. Gestern fuhren Tereza und ich nach Marathon. Dort angekommen, spazierten wir ein wenig auf einem Friedhof. Es war bereits mein zweiter Besuch auf einem griechischen Gottesacker.
Es gibt einige Unterschiede zu den Pendants in Deutschland: Zum einen sind alle Gräber aus weißem Marmor, welcher dem ganzen Ort ein großes Stück Tristesse nimmt. Zum anderen sind viele Grabsteine mit einer Art Vitrine ausgestattet, in welche die Angehörigen Fotos, Ketten und andere Gegenstände hineinlegen können. Das macht jedes Grab individuell und unverwechselbar. Es gibt auch manche Grabsteine mit wunderschönen Reliefs. Ich erinnere mich da an einen Stein, auf welchem Fischerboot auf dem weiten Meer dargestellt wurde. Auf dem Grab selbst lag ein rostiger Anker. Auf anderen wiederum sind kleine Gefäße befestigt, in die man Weihrauch hineinlegen kann. Somit riecht es immer ein wenig wie in einer Kirche. Die bösen Geister werden hiermit vertrieben, damit man auch morgen noch in Frieden ruhen kann.

Danach machten wir uns auf dem Weg zum Marathon-See. Nach einem etwas halbstündigem Fußmarsch war uns klar, dass unser Ziel weiter weg ist, als wir zunächst vermuteten und wir entschieden uns, per Anhalter zu fahren. Oder es zumindest zu versuchen. Und tatsächlich, nach dem 5. Versuch hielt ein junges Paar in einem 3er Coupe und nahm uns mit. Wären wir den Weg zum See gelaufen, wären wir wahrscheinlich erst in der Dunkelheit dort angekommen. Die beiden konnten ein wenig Englisch und so unterhielten wir uns auf der 15minütigen Fahrt über Athen, Deutschland und das Ski fahren, während der bärtige Mann am Steuer mehrere gewagte Überholmanöver ausführte. Die beiden ließen uns direkt am See raus und wir überquerten die Staumauer, um uns einen Weg zu suchen, der direkt um den blau-grün schimmernden Fleck führte. Vorbei am Dickicht und durch modriges Erdreich stiegen wir einen Abhang hinab, bis wir schließlich einen Pfad entdeckten. Was folgte, war ein nicht mehr für möglich gehaltenes Herbsterlebnis, welches ich für dieses Jahr eigentlich schon abgeschrieben habe. Ich sah gelbe und rote Blätter an Bäumen, füllte meine Lungen mit einer klaren, erdigen Luft und genoss die dunklen Wolken am Himmel, welche zwar bedrohlich aussahen, uns jedoch bis auf einen kleinen Nieselregen in Ruhe ließen. Die Landschaft hatte nichts mediterranes. Sie wirkte sehr mitteleuropäisch, und ich fühlte mich an einen milden Oktobertag am Edersee erinnert. Einen Großteil des Weges schwiegen Tereza und ich. Jeder sog die herbstliche Atmosphäre in sich auf und begab sich in seine eigene Welt. Fabelhaft. Irgendwann war jedoch klar, dass wir es nicht ganz um den See schaffen würden, zumindest nicht mit dem restlichen Tageslicht. Wir verließen den Pfad und folgten einer Geräuschkulisse, hinter der wir eine Stadt vermuteten. Die Sonne ging langsam unter, und wir befanden uns irgendwo in der Pampa. Unterwegs trafen wir wild streunende Hunde, die uns aggressiv anbellten und so heftig die Zähne fletschten, dass wir uns mit Stöcken bewaffneten und schnurstracks weitergingen. Sollte ich irgendwann mal graue Haare bekommen, so bin ich diesen am Sonntag ein großes Stück näher gekommen. Oh Mann, wir hatten echt Schiss, aber es ist ja alles gut gegangen. Ja wahrlich, was folgte war ein Happy-End. Kurz nach der Hunde-Attacke fuhr ein Auto an uns vorbei. Und wieder war es ein Paar, das anhielt, um uns mitzunehmen. Wir haben noch nicht mal den Daumen raus gehalten. Der Fahrer, ein ca. 40 Jahre alter Mann, sagte, wir hätten eben so ausgesehen, als könnten wir eine Mitfahrgelegenheit gebrauchen. Sein Ziel war „Metamorphis“, ein Stadtteil von Athen. Perfekt. Der Small-Talk war angenehm, und seine Freundin hatte Spaß daran gefunden, durch Tereza ein paar Dinge über Tschechien in Erfahrung zu bringen. Die meiste Zeit unterhielt sich jedoch das Paar. Ich versuchte ein paar Sachen zu verstehen, und zum ersten Mal überhaupt hier in Griechenland gelang es mir auch. Der Fahrer war irgendwann mal in Italien und wurde für einen Italiener gehalten. Als er jedoch sagte, dass er Grieche sei, war der Italiener überrascht und fragte ihn über verschiedene Fußballvereine in Athen aus. Das sagte der Mann seiner Freundin, die mindestens 10 Jahre jünger war als er. Wie dem auch sei: Ich fragte höflich, ob ich die Geschichte richtig verstanden habe und er nickte. Ich war froh und rang Tereza ein erstauntes Lächeln ab. Danach hörte ich mir den Monolog unseres Fahrers nicht mehr an, sondern schaute aus dem Fenster. Dort zeichnete sich die Kontur der athenischen Vororte ab. 20 Minuten später ließ der gute Mann uns an einer Metro-Station raus. Wir bedankten uns bei ihm noch etwas freundlicher als bei dem Fahrer zuvor, denn dessen Fußmatten haben wir nicht so sehr verschmutzt wie die seinigen...

Am selben Abend traf ich noch Florian, Markus und das französische Mädel, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann (Lolren, Nolren ?!). Zusammen schauten wir uns den aktuellen Film von David Lynch an. „Inland Empire“ beginnt unscheinbar. Alles scheint logisch und nachvollziehbar. Wer aber jedoch schon mal einen Film von Lynch gesehen hat weiß, dass es nicht lange so bleibt. Und so zerlaufen Realität und Scheinwelt so sachte ineinander wie geribbelter Käse in die Lücken eines Gratins im Backofen. Der totale Mindfuck. Tausend Fragen, keine Antwort. Ich habe keine Interpretation, und wenn ich sie hätte, wäre hier der falsche Ort dafür. Was für ein Streifen.

--

Ich habe nun zwei Tage Pause gemacht und schreibe weiter. Im Hintergrund läuft gerade der letzte Song von Pink Floyds „Dark Side of the Moon“. Am heutigen Mittwoch fiel die Uni aus, weil so gut wie alle öffentlichen Einrichtungen bestreikt wurden. Bereits gestern liefen wieder unzählige Techniker an der Patission (Straße des 28.Oktober) herum und installierten erneut diese unglaublich großen Lautsprecher. Bühnen wurden aufgebaut und Plakate an die Laternen getackert.
Es gibt wohl ein neues Gesetzesvorhaben. Die Beamten sollen, ganz grob gesagt, für weniger Gehalt mehr arbeiten. Und so gibt es hier den nächsten Streik. Mittlerweile habe ich aufgehört sie zu zählen.

Lucia und Despina haben heute einem Tannenbaum-Verkäufer ein paar Zweige abgeluxt und diese in die Küche gestellt. Ich habe eine Lichterkette drumgebunden und den Stecker reingesteckt. Jetzt haben wir so etwas wie einen Christbaum in unserer Wohnung. Das Teil wirkt fast schon lächerlich, aber dennoch verbreitet es ein wenig Weihnachtsstimmung. Als Despina vorhin der Küche war, sang sie einige Weihnachtslieder. Lucia ließ einige stimmungsvolle Stücke wie „O Du Fröhliche“ aus ihrem Laptop erklingen. Neben ihr lag ein Zettel mit Keksrezepten ihrer Großmutter, die sie wohl am Wochenende backen möchte. Darunter auch Vanillekipferl, die mit den Zimtsternen zu meinen Lieblings-Plätzchen gehören. Warten wir es ab.
Hier in Athen wird es nun auch etwas weihnachtlicher, wenngleich sich dies nur auf die Straßenbeleuchtung beschränkt. Dort hängen nun leuchtende Sterne und auch ein paar Engel.
Die unzähligen kleinen Basare dieser Stadt sind überhäuft mit singenden, tanzenden und „Ho-Ho-Ho“enden Weihnachsmännern in Plastikform. Ihr kennt bestimmt diese kitschigen Spielzeuge, in die man Batterien hineinlegt, sie einschaltet und einmal darüber lacht, bevor sie anfangen zu nerven. Mir scheint, als sei vor wenigen Wochen eine ganze Armada von diesen Spielzeugen aus China in Piräus gelandet. Dieses leuchtenden, blinkenden und tönenden Dinger sind überall. Manchmal läuft man durch eine Allee von Spielzeugen, und deren Gebimmel wird zu einer abstrusen Symphonie. Fast noch schlimmer als der Lärm der Straße. Und dennoch bleibe ich manchmal bei einem dieser fliegenden Händler stehen, um über die lustigen Markennamen zu schmunzeln. Da verkaufen die Inder doch tatsächlich Socken von „Adibos“ oder Unterhosen von „Kalven Kleen“. Billige Motorradjacken mit dem Aufdruck der bekannten deutschen Biermarke „Warsetner“ sind ebenfalls zu finden. Bleibt man allerdings zu lange stehen, quatschen die Händler einem ein Kotelett an die Backe, und darauf habe ich keine Lust. Also schnell weg hier...

Etwas mehr Weihnachtsstimmung kam letzte Woche auf, als Julia, Silvana und Angela zum „Nikolaus Sit-In“ luden. Es gab Glühwein, selbst gebackene Kekse und auch Spekulatius. Das war ein schön. Merkwürdig war (mal wieder) die Temperatur, denn wir tranken unseren Glühwein auf dem Balkon. Einige von uns hatten nur ein T-Shirt an. Den meisten anderen reichte ein einfacher Pullover.

Und dennoch bleibe ich im meinem Zimmer, vor allem um zu Lesen. Für ein Seminar habe ich mir nun Christian Fürchtegott Gellerts Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G.“ durchgelesen. Ein Werk aus der Zeit der Empfindsamkeit. Es gab einige Momente, die sehr tragisch waren und das Schicksal einiger Aktanten mich wirklich berührt hat. Andererseits gab es auch Passagen, in denen die an den Tag gelegte Tugend so überbordend und unrealistisch war, dass ich mir beim Lesen des Buches unweigerlich an die Stirn tippen musste. Unfassbar ist zum Beispiel die Loyalität des Herrn R., der viele Jahre nach dem (vermeintlichen) Tod des Grafen neuer Ehemann der Gräfin wird und wiederum nach einigen Ehejahren erneut die Rolle des guten Freundes einnimmt, als der Graf zurückkehrt. Oder der Brite Steeley, der in russische Kriegsgefangenschaft gerät und von einem russischen Mitgefangenen übel gemobbt wird. Nachdem dieser brutal verdroschen wurde, bietet Steeley ihm etwas von den spärlichen Brotkrumen an, damit er überlebt. Goethe sagte ja schon: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“Aber diese Welt scheint mir doch zu irreal, wenn es auch viele tugendreiche Menschen geben mag. Vielleicht sollte es einfach nur eine Idealvorstellung widerspiegeln, und nicht die wahren Verhältnisse der damaligen Zeit dokumentieren.
Auch hier möchte ich mich, wie beim Film von David Lynch, nicht allzu tief einlassen. Ich möchte nur anmerken, dass mich dieser Roman zeitweise in eine andere Welt entführt hat. Ich vergaß Athen und sog die Zeilen in mich auf, so das die Zeit wie im Fluge verging. Das passiert mir nicht bei allen Büchern, und nun habe ich wieder eines entdeckt. Diese Tatsache freut mich und war ein kleines Highlight der letzten Woche.

Wenn wir schon mal beim Thema „Zeit“ sind, möchte ich schnell sagen, dass einige Erasmus-Studenten mittlerweile schon zu Hause sind, um das Weihnachtsfest vorzubereiten. Vor allem die Italiener können hier nicht schnell genug weg. Die meisten anderen werden in der kommenden Woche ihren Weg nach Hause antreten. Ich werde somit einer der letzten sein, die Athen verlassen.
Dafür komme ich wohl, mit Markus und Julia, am spätesten wieder. Wie wir drei letztens feststellten, nehmen wir den selben Flieger am 12. Januar.

Und nochmal die „Zeit“. Ende dieser Woche ist offiziell Halbzeit für mich und meine Zeit hier in Athen. Das Semester endet am 29. Februar. Ich spiele mit dem Gedanken, noch 1-2 Wochen länger hier zu bleiben und durch das Land zu reisen. Bei meinen Ausflügen ins Umland von Athen habe ich schon so viele Orte entdeckt, die meinen Glauben an ein anderes, schöneres Griechenland abseits der Hauptstadt aufrecht erhalten. Wie wird es wohl erst weit entfernt von diesem Moloch aussehen?!

Ich weiß allerdings, wie es in Dortmund und in Oer-Erkenschwick aussieht, denn in diesen beiden Städten habe ich den Großteil meines Lebens verbracht. In den letzten Tagen denke ich oft an ihre Straßen, Häuser und Parks. Diese Orte scheinen so unendlich weit entfernt, und doch werde ich bald wieder dort sein. Ich habe ein gemischtes Gefühl, welches sich aus Fernweh, Heimweh, Neugier, Ablehnung und Wertschätzung zusammen setzt. Ich werde meine Heimat wohl mit anderen Augen sehen. Alles wird mir bekannt vorkommen. Und dennoch wird mir dieses „alles“ leicht verfremdet unter die Augen treten. Ich sehne mich dorthin, und wenn ich einmal da bin, wird es vielleicht auch ganz schnell wieder wie gehabt. Dann freue ich mich bestimmt wieder auf Griechenland und begreife möglicherweise erst dann so richtig, was ich hier eigentlich habe. Das Gefühl der zeitlichen Begrenzung nimmt Überhand und ich sauge meine Umwelt intensiver auf als zuvor. Ich gehe hier bald weg, komme danach wieder, bin danach aber wieder weg und komme vielleicht nie mehr wieder. Dann werde ich irgendwann an die Menschen hier und meine gesammelten Erfahrungen denken, lächelnd ein Glas Wein schwenken und mir vielleicht ein paar Bilder ansehen. Wer weiß, wer weiß...
Meine Güte, ich werde ja fast schon sentimental. Bei all diesen Träumereien darf ich nicht vergessen, meine Hausarbeiten vorzubereiten. Für eine habe ich mir gestern die nötigen Unterlagen kopiert. Ungefähr 350 Seiten Papier.

Ich schließe diesen Eintrag mit meinem ersten Erfolgserlebnis an der Uni Athen ab. In meiner ersten Klausur (Sprachvarietäten-Sprachwandel) habe ich von 25 Punkten 24 erreicht. Schuhu.

Bis dann.
Benjamin

---

Mein Video der Woche zeigt einen zufriedenen Mann.
Seht ihn Euch an und tut es ihm nach.

1 Kommentar: